Ausgewandert in die Türkei«Heute bin ich meiner Mutter nicht mehr böse»
Behütet wächst Miriam Stebler in St. Gallen auf. Doch dann wird diese Idylle jäh zerstört. Inzwischen hat sie sich am Schwarzen Meer ein neues Leben aufgebaut.
- Miriam Stebler wurde als Kind wider Willen von ihrer Mutter in die Türkei gebracht.
- Die St. Gallerin hat ein bewegtes Leben hinter sich, geprägt von vielen Schicksalsschlägen.
- An der Universität Giresun ist die Dozentin bei ihren Studierenden beliebt – und wird sogar zu deren Hochzeiten eingeladen.
- Sie würde gern auch anderswo leben, bleibt aber am Schwarzen Meer wegen ihrer Tochter.
Miriam Stebler erinnert sich noch genau an den Tag, an dem ihr altes Leben endete. Es ist Mittwochmittag, ihre Mutter holt sie und ihre Schwester in St. Gallen von der Schule ab. Im Auto eines Freundes machen sie sich auf zu einem Picknick – denkt Miriam. Doch sie fahren weiter und immer weiter.
Die Neunjährige fragt: «Wohin gehen wir?»
Die Mutter: «In die Türkei.»
Miriam: «Aber morgen haben wir Schule!»
Die Mutter lacht: «Ihr habt keine Schule mehr.»
Ein anderer Mittwochmittag, an einem milden Frühlingstag im Mai 2024: Miriam spaziert unter der gleissenden Sonne, links dröhnt der Verkehr, rechts rauscht das Schwarze Meer.
Sie liebt es, zu laufen, und die kilometerlange Promenade des Küstenorts Giresun im Nordosten der Türkei ist der perfekte Ort dazu. Am Wasser kann sie stundenlang schlendern, mit ihren Kopfhörern auf und Musik im Ohr. Bis zu 20 Kilometer legt sie zu Fuss zurück – täglich. «Ich kann nicht lange still sitzen.»
Giresun mit seinen über 120’000 Menschen ist nach türkischem Massstab eine Kleinstadt; auch viele Studierende leben hier. Durch das Zentrum zieht sich ein vierspuriges Asphaltband, das sich von Istanbul und Ankara im Westen her kommend bis nach Georgien im Osten erstreckt. Nur 350 Kilometer die Küste entlang sind es bis zur dortigen protzigen Hafenstadt Batumi.
Nach Giresun kommen indes keine Touristen, nicht einmal, wenn sie sich verfahren. Und trotzdem ist der Ort zumindest für eine Sache bekannt: Haselnüsse.
Die Region am Schwarzen Meer ist die grünste im ganzen Land. An den steilen Hängen reifen knackige Nüsse, die sich ab der ersten Augustwoche ernten lassen. Von hier aus gelangen sie in die ganze Welt.
Allein in der Fremde
Miriams Geschichte beginnt nicht in der Türkei, sondern in der Altstadt von St. Gallen. Hier wächst sie als Tochter eines Schweizers und einer Türkin auf. Mit ihrer Zwillingsschwester spielt sie oft im Klosterhof.
Im Winter reist die Familie oft ins Wallis, wo die Grossmutter ein Chalet besitzt. Miriam ist Mitglied im Skiclub Unterbäch, fährt Medaillen heraus, träumt sogar von einer alpinen Karriere. Heute erinnert sie sich: «Es fühlte sich an wie Fliegen. Ich wäre eine gute Skifahrerin geworden.»
Wäre, hätte, könnte. Im Konjunktiv sieht das Leben der St. Gallerin ganz anders aus. Fakt jedoch ist: Als Neunjährige ist sie nach ihren Worten «entführt» worden – von ihrer eigenen Mutter. Diese flüchtet während des Scheidungsverfahrens mit beiden Kindern in ihr Heimatland.
Erst am Schwarzen Meer nahe Giresun nimmt die Reise ein Ende. Die Kinder kommen bei Bekannten, die sie nicht kennen, unter, während die Mutter sich umgehend wieder in die Schweiz aufmacht, um vor Gericht die Scheidung zu vollstrecken.
Als sie zurückkehrt, gibt sie ihren Töchtern je einen zweiten Namen. Miriam heisst jetzt neu auch noch Zeliha. Eine Wahl hat sie nicht.
Die St. Gallerin bleibt auf der Promenade stehen und blickt nachdenklich aufs Meer. «Ich vermisste meinen Vater. Die Schule. Das Velofahren. Es war schlimm.»
Für die nächsten Jahre zieht Miriams Mutter mit den beiden Kindern von einem Ort zum nächsten. Weil sie nicht arbeitet und kaum Geld besitzt, lebt die Familie zeitweise auf einer Baustelle. Dem Vater zu Hause in der Schweiz am Telefon erzählen darf Miriam nichts. Dieser ist mit der Situation überfordert, ruft selbst nicht an, verständigt nicht die Polizei.
Noch bevor sie aufs Gymnasium kommt, arbeitet Miriam als Sekretärin in einer Arztpraxis. Sie ist erst 13, doch die Familie braucht Geld.
In ihrem ersten Jahr an der Universität putzt sie in einer Möbelfabrik, brüht Kaffee und setzt Tee auf, kontrolliert Verkäufe und Termine. Wenn sie eine freie Minute hat, nimmt sie ein Buch aus ihrem Rucksack und liest. «Das war meine Welt», erzählt sie. Im Herbst sammelt und trocknet sie Kuhfladen, gibt ihnen gehäckselten Kohl bei, damit sie im Winter im Ofen besser brennen.
Doch trotz der Armut wurden sie nicht im Stich gelassen: «Die Menschen sahen unsere Mühe und haben uns immer geholfen.»
Nach 20 Jahren in der Türkei sieht Miriam erstmals wieder ihre alte Heimat. Am Flughafen Zürich erkennt sie ihren Vater zuerst nicht am Aussehen – sondern an seiner Stimme. «Und er mich an meinen Hasenzähnen», sagt sie und lacht laut heraus. Als die junge Frau wenig später in der Altstadt von St. Gallen steht, weint sie hemmungslos.
Heute besuchen die beiden Schwestern gemeinsam einmal im Jahr ihren Vater. Er selbst hat sich nie überwinden können, in die Türkei zu reisen.
Der Wunsch der Tochter schmerzt die Mutter
Miriam steht im Schulzimmer und strahlt. Sie ist fröhlich, besonders vor ihrer Klasse. Seit 2011 ist sie an der Universität von Giresun als Dozentin für türkische Pädagogik angestellt und unterrichtet angehende Lehrerinnen und Lehrer in Weltliteratur, Semantik, Textverständnis und kreativem Schreiben.
Einen schlechten Tag habe sie nie, versichert die mittlerweile 45-Jährige. Auch streng sei sie nicht. «Manchmal mahne ich, aber stets mit Humor.»
Über den Uni-Campus am Rande der bewaldeten Hügel bewegen sich täglich bis zu 6000 Studierende. Bei einem Rundgang zeigt Miriam die verschiedenen Schulgebäude und die grosse Moschee, die sich ebenfalls auf dem Gelände befindet. Fünfmal am Tag ertönen vom Minarett via Lautsprecher die Lobpreisungen Allahs.
Als junge Erwachsene heiratet Miriam. Sie glaubt, den richtigen Mann gefunden zu haben. Ihre Mutter sieht das zwar anders, aber vielleicht entscheidet sie sich gerade deshalb für ihn. «Im Nachhinein war das wohl ein Fehler.»
Miriam wird schwanger. Trotzdem will sie ihr Doktorat vollenden. Dafür pendelt sie jede Woche zehn Stunden mit dem Bus zwischen dem Schwarzen Meer und Ostanatolien, wo sich ihre Schule befindet. Als Schwangere in der Türkei ist das eigentlich ein Tabu. Ihre Arbeit schliesst sie mit 97,5 von 100 Punkten ab.
Miriam bringt eine Tochter zur Welt. Doch das Familienleben ist von kurzer Dauer. Die Ehe geht in die Brüche, und Tochter Erna will bei ihrem Vater leben. Es bricht Miriam das Herz, doch selbst vor Gericht kommt sie dem Wunsch ihres Kindes nach. «Ich will nicht, dass meine Tochter keine Wahl hat – so wie ich damals.»
Als sie erst einen Monat getrennt sind, erkrankt Erna. In der Nachbarstadt Samsun muss sie im Spital zur Onkologie und sich für zwei Jahre einer Chemotherapie und Bestrahlung aussetzen.
An Arbeiten ist längst nicht mehr zu denken. Miriam ist fast nur noch im Spital bei ihrer Tochter. Als dieser die Haare ausfallen, rasiert sich auch Mami den Schädel kahl und macht lustige Fotos mit ihr. Einfach ist es für Miriam aber nicht, Erna wird immer schwächer. «In ihrem Gesicht waren alle Knochen zu sehen. Wenn sie lächelte, machte sie mir Angst.»
Licht in der dunkelsten Stunde
Wenig später erkrankt auch Miriams Mutter. Sie wird in das Spital von Trabzon verlegt. Ausgerechnet! Nun muss Miriam zwischen den beiden Städten hin- und herfahren, um sich um beide zu kümmern. Ihre Schwester kann sie nicht unterstützen, sie lebt mittlerweile in England. Die Reise mit dem Bus dauert jeweils sieben Stunden; ein Auto besitzt Miriam nicht.
Eines Nachts erhält Miriam einen Anruf aus Trabzon. Bei ihrer Mutter werde nun die letzte Behandlung durchgeführt. Im ersten Moment versteht sie gar nicht, was damit gemeint ist.
Was sie tatsächlich fühlt, hat Miriam immer versteckt. Ihrer Tochter hat sie im Spital vorgespielt, dass alles in bester Ordnung sei, auch die Streitereien mit ihrem früheren Mann verheimlicht sie. Sie baut eine heitere Scheinwelt auf, fast wie im berühmten Film «La vita è bella».
Doch als ihre Mutter stirbt, kann sie ihre Emotionen nicht mehr zurückhalten. Miriam weint, als sie ihrer Tochter davon erzählt. Sie weint auch, als ihre Mutter in Giresun beerdigt wird.
Trotz all der Tränen sieht sie die vielen Menschen, die an diesem verschneiten Wintertag zur Bestattung kommen. Vor allem Lehrerkollegen sowie viele Schülerinnen und Schüler. Sie entlässt ihre Mutter mit der Totenwäsche auf die letzte Reise. «Es tat so gut. Sie war schön und klein, wie ein Engel.»
An diesem Tag sagen Freunde zu Miriam: «Du hast das Schlimmste erlebt, jetzt kann dich nichts mehr kaputtmachen.»
Momente wie diese geben Miriam Kraft, weiterzumachen. Auch, als ihre Tochter für die Behandlung weisse Blutplättchen benötigt. Nach einem Facebook-Aufruf melden sich teils wildfremde Menschen zur Spende. «Ich habe in meinem Leben so viel Unrecht erfahren. Aber in diesem Moment hatte ich das Gefühl: Jetzt kann ich endlich ernten.»
Zwei Jahre lang schläft Miriam nachts kaum zwei Stunden am Stück. In dieser Zeit wird sie an der Universität von Giresun zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Trotz aller Umstände kann sie die Verantwortlichen von ihren Qualitäten überzeugen. Auch ihrer Tochter geht es besser, sie hat viel Gewicht verloren, aber die Behandlung schlägt an.
Sie bringt andere zum Lachen
An einem sonnigen Tag fahren wir in die Berge, um steil abfallende Haselnussplantagen, Wasserfälle und ein Dorf zu besichtigen, in dem Miriam einst in der Mittelschule unterrichtet hat.
Dieser Ort oder Giresun waren nie ihre Wunschdestinationen. Aber sie ist dort, wo ihre Tochter lebt. Auch wenn Erna noch immer bei ihrem Vater wohnt und nur gelegentlich spontan zu Besuch kommt.
Rückblickend ist Miriam für die traumatische Zeit sogar dankbar: «Sie hat mich stark gemacht.» Sie ist Facebook-Gruppen beigetreten, in denen sich Eltern über ihre schwer erkrankten Kinder austauschen, und muntert andere Mütter und Väter auf.
Selbst an der Universität, als sie einmal von einem Vorgesetzten gemobbt wird, lässt sie sich nicht unterkriegen. Dann sagt sie Sätze wie: «Ich gehöre hierhin. Wer mich nicht mag, soll selbst die Stadt wechseln.» Oder: «Mag sein, dass mich niemand liebt – aber das ist mir egal. Ich liebe mich selbst.»
Heute ist sie überzeugt, ihren Traumjob gefunden zu haben. Stets hat sie ihre Schülerinnen und Schüler um sich. Spazieren wir durch die Stadt, kommen wir nicht weit, ohne dass sie stehen bleibt, jemanden grüsst und einen kurzen Schwatz hält.
Studierende vertrauen ihr private Dinge an, die sie sonst niemandem erzählen. Sie wird sogar als Trauzeugin zu ihren Hochzeiten eingeladen. An den Abschlussfeiern an der Uni erscheint sie jeweils in Schweizer Tracht und ist ein beliebtes Fotosujet.
Die türkische Sprache fasziniert Miriam, sie sei so poetisch. So sage man auf Türkisch nicht, jemand sei gestorben, sondern die Person habe ihre Seele verloren. Die Schweizerin dichtet gern, schreibt auf, was sie erlebt oder was ihr durch den Kopf geht.
Ein Sprichwort passt besonders gut zu ihr: «Es gibt viele Gründe, im Leben zu weinen. Das Wichtigste ist, Gelegenheiten zu schaffen zum Lachen.» Ihre Werke hat sie als Buch veröffentlicht.
In Giresun hat sich Miriam eine Wohnung gekauft. Sie hält je ein Zimmer für Tochter Erna und ihre Schwester bereit, wenn sie einmal im Jahr zu Besuch kommt.
In ihrem Haus finden sich überall kleine Mitbringsel aus der Schweiz. Und Hello-Kitty-Aufkleber. Auch in ihrer Agenda kleben farbige Sticker, sie schreibt ihr Tagesprogramm minutiös auf. Sie ist gut organisiert und erscheint an einem Termin stets 15 Minuten zu früh.
Miriam steckt mit ihrer Freude andere an. Woher kommt dieser Frohmut?
Ihre Mutter habe stets geraucht, gehustet, reklamiert und gejammert. Nie habe sie ihren Kindern gesagt, sie sei stolz auf sie oder liebe sie. Miriam überlegt und sagt: «Vielleicht bin ich so optimistisch, weil sie so pessimistisch war.»
Böse ist sie ihrer Mutter heute nicht mehr, sie habe alles Negative beiseitegelegt. Auf dem örtlichen Friedhof hat sie den Platz neben dem Grab ihrer Mutter für sich reserviert.
Mit 45 Jahren hat Miriam Zeliha Stebler ihre Freiheit zurückgewonnen – zumindest ein bisschen. Sie steht an der Aussichtsplattform bei Mavigöl, einer Schlucht in den Bergen, durch die klares Bergwasser in Richtung Schwarzes Meer strömt.
Sie hebt ein Bein aufs Geländer, streckt beide Hände in die Luft und lacht, als hätte sie soeben im Lotto gewonnen. Das Foto wird sie gleich auf ihren Instagram-Kanal laden und dort über 1300 Follower belustigen.
Als sie wieder auf beiden Füssen steht, sagt sie: «Vielleicht kommt jetzt meine Zeit. Bevor ich sterbe, lebe ich!»
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