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Weltklasse-Ausstellung in der Schweiz
Ein roher, leiden­schaftlicher Bilder­rausch

Aus dem Fotoband «Pretty Woman» (2017).
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Ein Fötus mit geschlossenen Augen, der sein Gesicht mit seinen Fingerchen bedeckt, gehört zu den frühesten, längst ikonisch gewordenen Fotos des japanischen Fotokünstlers Daido Moriyama. Der werdende Mensch wirkt schutzlos. Wenig ausgebildet sind die Gesichtszüge. Noch steht ihm das Abenteuer des Sehens bevor. Für den 1938 geborenen Moriyama, der sich zeitlebens mit grundlegenden Fragen der Fotografie und des Sehens beschäftigt hat, ist es ein geradezu programmatisches Bild.

Über 150 Fotobücher publizierte der inzwischen 84-Jährige. Das Bild des Fötus übernimmt er auch in sein 1968 veröffentlichtes Fotobuch «Japan Theater», das mehr als ein halbes Jahrhundert nach seinem Erscheinen nichts von seiner Frische und Radikalität verloren hat.

Moriyama zeigt ein ungeschöntes Bild von Japan

Moriyama mischt darin Strassenszenen und Aufnahmen von Restaurants, Hotels und Shops mit Porträts von Passanten, Artisten, Prostituierten oder Drogensüchtigen. Die Fotos sind aus ihrem originalen Kontext gerissen und so komponiert, dass ein geradezu verrückter Bilderrausch entsteht, der einem ein ungeschöntes Bild der japanischen Gesellschaft vor Augen führt.

Fötus aus einer Klinik in Hadano, Kanagawa (1964).
Aus dem «Letter to St-Loup» (1990).

Moriyamas Lebenswerk wird derzeit im Photo Elysée, dem Fotomuseum in Lausanne, in einer grossartigen Retrospektive vorgestellt. Die von Thyago Nogueiro ursprünglich für das Instituto Moreira Salles in São Paulo konzipierte Ausstellung setzt sich nicht nur mit Moriyamas Werken, sondern auch mit seinen Essays zur Fotografie auseinander. Die Schau war bereits in London, Helsinki und Berlin zu sehen und wurde von der Londoner Zeitung «Guardian» zur besten Fotoausstellung des Jahres 2023 gekürt.

Street Photography neu entdeckt

Nichts ist Moriyama fremder als jene Hochglanzbilder, die von Illustrierten und traditionellen Fotomagazinen im Japan der 1960er-Jahre verbreitet werden. Viel lieber arbeiteten er und seine Kollegen Takuma Nakahira und Yutaka Takanashi, bei deren linksgerichtetem Fotomagazin «Provoke» er 1969 mitwirkte, nach dem Prinzip «Are, Bure, Bokeh», das als grob(körnig), verschwommen und unscharf übersetzt werden kann.

«Tokyo» (1969).
«Hyogo» (1971) aus dem Fotoband «A Hunter».

Moriyama, der mit dem Werk von Andy Warhol und William Klein gut vertraut war, hat die Street Photography, deren Anfänge ja bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen, für Japan neu entdeckt. Mit seiner auf Spontaneität beruhenden Alltagsfotografie blickt er hinter die Fassaden einer Gesellschaft, die sich vor 50 Jahren ebenso gerne in ihren Hochglanz-Postillen gespiegelt hat, wie wir uns heute von Influencern eine glitzernde Warenwelt vorgaukeln lassen.

Herumstreunen wie ein Hund

Gerne fotografiert er aus der Hand, ohne den Kamerasucher zu benutzen. So entstehen schräge, extrem angeschnittene, ja auch radikal abstrakte Bilder. Immer wieder vergleicht der rastlose Fotograf sich selbst mit einem herumstreunenden Hund. 2004 veröffentlichte er ein Buch unter dem Titel «Memories of a Dog», in dem er unter anderem seinen berühmt gewordenen «Stray Dog» aus dem Jahre 1971 wieder abbildete.

«Stray Dog, Misawa» (1971) aus dem Fotoband «A Hunter».

Die Ausstellung im Photo Elysée zeigt Moriyama als ruhelosen Bilderjäger. Im Jahre 1969 setzte sich der Fotograf zum Beispiel in einer monatlich erscheinenden Bilderserie in der Zeitschrift «Asahi Camera» kritisch mit der Darstellung von Unfällen in der Presse auseinander. Diese Arbeiten werden im ersten Raum der Ausstellung in chronologischer Abfolge vorgestellt.

Daido Moriyama in der Schaffenskrise

Eine dieser Serien setzt sich mit dem Tod von Robert F. Kennedy auseinander, wobei den Fotografen weniger der Tod des Politikers interessierte, als dessen Darstellung in den Medien. Er fotografierte nicht das Ereignis, bei dem er ja gar nicht zugegen war, sondern Bilder aus Zeitungen, Magazinen und TV-Nachrichten, und arbeitete so die Distanz zwischen Ereignis und Bild heraus.

Ausstellungsansicht zum Fotoband «Farewell Photography» (1972).

Ein Höhepunkt der Schau ist die museale Inszenierung von «Farewell Photography» aus dem Jahre 1972, einem Fotobuch, mit dem sich Moriyama sozusagen fotografisch von der Fotografie verabschiedete. Es war der Anfang einer bis in die 1980er-Jahre dauernden Schaffenskrise. Daido Moriyama suchte nach Antworten auf so existenzielle Fragen wie: Wer bin ich als Fotograf? Was kann eine Fotografie festhalten? Ist eine Fotografie eine Aufnahme oder ein Kunstwerk? Wo liegt das Ende der Fotografie?

«Yokosuka» (1970).
«Tokyo» (ca. 2000).

Die Ausstellungsmacher montieren die Seiten von «Farewell Photography», es sind rund 140 Schwarzweissfotos, in zehn übereinander liegenden Reihen auf einer riesigen Wand. Das Resultat ist ein Gesamtkunstwerk: eine chaotische Collage von Fotos, die Moriyama auf seinen Streifzügen speziell für dieses Buch geschossen hatte, von Aufnahmen aus Büchern, aus Zeitschriften und von Fotos aus seinem Archiv, auch solchen, die schon einmal veröffentlicht wurden.

Ein wilder Ritt

Die Reihenfolge überliess er dem Zufall, das heisst, er schickte das Konvolut an Bildern an seinen Verleger, der daraus ein Buch gestaltete. Der reihte die Fotos zu einem wilden Ritt durch Moriyamas Bildwelten, zu einer rasenden Fahrt, auf der Objekte und Personen, Helles und Dunkles, Scharfes und Verschwommenes, Flaches und Tiefes, Gefährliches und Glück Verheissendes brutal zusammenstossen.

«New York» (1971).
«Yokohama» (1969).

Anfang der 1980er-Jahre, er war jetzt in seinen Vierzigern, fand Moriyama zurück zu seiner Schaffenskraft. Die Fotos werden schärfer, präziser, die Fotobücher, die auf einem langen Tisch in der Ausstellung zum Durchblättern ausgebreitet sind, wirken weniger chaotisch und zugänglicher.

An den Wänden des Museums hängen nun atemberaubende Bildkompositionen, die aus grossformatigen Einzelfotos zusammengesetzt sind. Das ist immer noch Street Photography at its best, aber eine, die viel stärker auf das Einzelbild vertraut, als das im Frühwerk der Fall war.

Für das Magazin «Provoke», Tokyo (1969).
«How to Make Beautiful Photos» (1987).

Grossartig in Szene gesetzt ist in der Schau auch Moriyamas Fotoserie aus dem Jahr 1987, in der er unter dem Titel «How to Make Beautiful Photos» geradezu abstrakt wirkende Nahaufnahmen von mit Netzstrümpfen bekleideten Damenbeinen machte. Die Beine werden auf diesen Fotos zu erotischen Architekturen. Der Netzstrumpf zum Koordinatensystem, mit dem ein Kartograf einen Körper ausmessen könnte.

Ausstellungsansicht zum Fotoband «Pretty Woman» (2017).

Zu guter Letzt präsentiert die Ausstellung Moriyamas 2017 erschienenen Fotoband «Pretty Woman» in einer immersiven Installation: In einem länglichen Raum, dessen Wände von oben bis unten mit Fotos beklebt sind, befindet man sich als Besucher mitten in einem Bilderwald.

Der Fotograf setzt sich in knallbunten Farben mit dem Bild der Frau auf der Strasse und in der Werbung auseinander und überhöht dabei genau jene Verfahren bis ins Groteske, die von Mode- und Hochglanzfotografie verwendet werden: Scharfe Bilder, Spiegel und Gläser, geschminkte Gesichter, künstlicher Glanz zeigen jene frivole Welt von Schein und Konsum unserer Grossstädte und ihrer Bewohner, die Daido in seinen frühen Arbeiten aufs Radikalste ablehnte. Es ist eine verführerische Welt, grossartig fotografiert, der aber etwas abgrundtief Pessimistisches anhaftet.

Die Ausstellung im Photo Elysée Lausanne dauert bis zum 23. Februar 2025.