Weltkulturerbe in GefahrKyoto vermisst seine Touristen
Japans Tourismushauptstadt Kyoto wurde von Gästen aus aller Welt überrannt – bis das das Virus kam. Nun fürchten viele den Kollaps mehr als Corona.
Ein trüber Frühlingsfreitag im japanischen Notstand. Der Kiyomizu-dera, der Tempel des reinen Wassers, die Hauptattraktion der alten Kaiserstadt Kyoto, ruht in unberührter Pracht am Fusse der Otowa-Berge. Keiner da, alle ferngehalten von den Abstandsregeln der Coronavirus-Krise. Ausser drei jungen Leuten aus Hyogo, die auf dem Rückweg von Shiga noch kurz hinauf wollten zum berühmtesten Ausguck Japans. «Erfrischend» finden sie den ungewohnten Frieden. Und es stimmt: die Koyasu Pagoda, die rot und aufrecht in die Landschaft ragt, das junge Grün der Ahornbäume, die Schatten des angrenzenden Bergwaldes, Kyotos dicht bebaute Ebene in der Ferne – das alles hat mehr Kraft, wenn man es mit Musse betrachten kann.
Wie war das im November, als das Laub rot und gelb war und unter einer kräftigen Herbstsonne leuchtete? Hunderte Menschen wuselten sorglos den Hügel hinauf, machten Selfies und andere Bilder, verstellten die Sicht von der Terrasse, übertönten den Frieden. Vor der Haupthalle war ein Chaos aus Schuhen, weil so viele hineinwollten zur Statue der elfköpfigen Kannon. Ausländerinnen in Kimonos spazierten vorbei. Der Tempel war kein Ort zum Verweilen, sondern eine Sehenswürdigkeit, durch die man eben auch mal durchmarschiert sein wollte. Jetzt ist Ruhe. Schön. Aber auch beklemmend, wenn man die ganze Geschichte bedenkt.
Der Tourismus leidet besonders stark
Ein Spaziergang durch Kyoto führt dieser Tage in eine Brache der Pandemie. Viele Länder haben beschlossen, das gesellschaftliche Leben dem Kampf gegen die Lungenkrankheit Covid-19 unterzuordnen, die für manche Menschen tödlich sein kann. Nicht nur Infizierte sollen sich zurückziehen, Abstand halten, nicht mehr verreisen – auch Gesunde sollen das tun. Die Freude an der Nähe zum Fremden steht plötzlich für alle unter Virusvorbehalt, und das macht Branchen sterbenskrank, die kürzlich noch vor Kraft strotzten. Die Tourismusindustrie leidet besonders, Gastlichkeit verkauft sich gerade nicht. Vor allem dort, wo man lange über die Ausmasse des Fremdenverkehrs stritt, gibt es Zeichen einer Depression. Kyoto ist dafür ein gutes Beispiel.
Übertourismus ist hier in den vergangenen Jahren das grosse Thema gewesen. Die Debatte gipfelte im Januar im Bürgermeisterwahlkampf. Der altgediente parteilose Amtsinhaber Daisaku Kadokawa musste Zugeständnisse machen, sonst wäre er möglicherweise an seinem eigenen Erfolg gescheitert. Seit 2008 ist Kadokawa Kyotos Bürgermeister. Mit straffen Regeln für Hausbau und Fassadengestaltung hat er den Charme des historischen Kyoto gegen die Sünden der Zweckbauwirtschaft verteidigt. Gleichzeitig modernisierte er Infrastruktur und Verkehrsanbindung.
Heute gilt Kyoto als Japans Tourismushauptstadt. Historische Bauten wie der Kiyomizu-dera gehören zum Weltkulturerbe der Unesco. Keine andere Metropole im Inselstaat schlägt so konsequent die Brücke zwischen Tradition und Moderne. Das zieht Menschen aus aller Welt an.
«In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben wir einen Anstieg der Touristenzahlen auf mehr als 50 Millionen pro Jahr gesehen», hat Kadokawa im Dezember in der Japan Times gesagt. Mit der Masse kamen die Bedenken. Manche hatten Sorge, dass der Besucherkommerz die lokale Kultur verdränge. Einheimische klagten über Lärm, volle Busse und schlechte Manieren von Ausländern. Kodokawas politische Gegner witterten ihre Chance.
Aber jetzt ist das neuartige Coronavirus da. Seit Februar hemmen die verschiedenen Massnahmen gegen die Ausbreitung von Covid-19 den Fremdenverkehr. Dass die Staatsregierung des rechtskonservativen Premierministers Shinzo Abe vergangene Woche seine Notstandserklärung von sieben auf alle 47 Präfekturen ausweitete, war für viele Unternehmer in Kyoto nur die etwas strengere Bestätigung eines Stillstands, der schon längst da war. Die Diskussion über den Übertourismus wirkt mittlerweile wie eine Debatte aus glücklichen Zeiten. Untertourismus ist das neue Thema. Wie viele andere Hauptstädte des Fremdenverkehrs erlebt auch Kyoto den jähen Wechsel von erstickender Fülle zu gähnender Leere. Selbst die scharfen Tourismuskritiker kommen ins Grübeln. Was ist schlimmer: zu viele Gäste zu haben? Oder zu wenige Gäste zu haben?
Die Sehenswürdigkeiten sind verwaist
Bürgermeister Kadokawa will dazu gerade kein persönliches Interview geben. Normalerweise gerne, aber in diesen Zeiten nicht, heisst es aus dem Rathaus. Prinzipien sind Kadokawa wichtig. Das sieht man schon an seinem Kleidungsstil. Kadokawa trägt meistens Kimono. Die traditionelle Mode hält er derart in Ehren, dass er im vergangenen Jahr einen geharnischten Brief an den amerikanischen Reality-TV-Star Kim Kardashian schrieb. Deren neue Unterwäschemarke sollte «Kimono» heissen, das fand Kadokawa respektlos – und nach der Negativ-PR aus Japan änderte Kim Kardashian den Namen.
Jetzt will der Bürgermeister nicht gegen das Prinzip der Coronavirus-Bekämpfung verstossen, wonach möglichst niemand von Stadt zu Stadt reisen soll. Dann vielleicht ein Videoanruf? Gehe aus Sicherheitsgründen nicht, heisst es aus dem Rathaus. Kadokawas Antworten kommen also per E-Mail. Sie sind teilweise eine Wiederholung dessen, was er schon oft gesagt hat: Kyoto sei nicht als Touristenattraktion gegründet worden. Der unverfälschte Charakter der Stadt als alte Kaiserresidenz und Tempelstandort am Berg habe sie dazu gemacht. Aber zwischen den Allgemeinplätzen findet sich auch der Satz: «Tourismus, der wirtschaftliche Effekte und neue Jobs für eine grosse Bandbreite an Industrien bringt, ist unersetzlich für die Wiederbelebung der lokalen Wirtschaft und ein reicheres bürgerliches Leben.»
Daraus darf man schliessen, dass auch Daisaku Kadokawa leidet, wenn er sieht, wie leer seine Stadt gerade ist. Viel Energie hat er darauf verwendet, um die Harmonie zwischen Touristen und Einheimischen wiederherzustellen. Erst im vergangenen Herbst verkündete die Stadtregierung ein ganzes Massnahmenpaket gegen Übertourismus:
- Online-Stau-Vorhersagen für populäre Plätze. Spezialangebote für die U-Bahn, damit Touristen nicht die engen Busse nehmen.
- Informationskampagnen, damit sich Touristen besser benehmen.
- Ein Fotografierverbot auf den Privatstrassen des Gion-Distrikts, damit Touristen nicht mehr den Maikos, den Geisha-Lehrlingen, nachstellen.
- Das Verbot, Privaträume an Touristen zu vermieten, gibt es schon länger.
2020 sollte für Kyoto das Jahr einer neuen Qualität im Fremdenverkehr werden. Die Olympischen Spiele in Tokio hätten sicher noch mehr Gäste gebracht. Kadokawa sah das als Chance, der Welt noch mehr über japanische Kultur zu erzählen, über Teezeremonie, Blumenstecken oder das Anlegen eines Kimonos.
Und jetzt das: Die Sehenswürdigkeiten sind verwaist, die Spiele verlegt. Es herrschen Virusangst und Ungewissheit.
Auf der Zugfahrt von Tokio nach Kyoto muss man sich über zu dichte Abstände keine Gedanken machen. Am Schalter hat der Fahrkartenverkäufer zur Beruhigung gesagt, dass im Grossraumwaggon nur vier Plätze reserviert seien. In Kyoto ist der Bahnsteig fast leer, die Bahnhofshalle auch. Normalerweise herrscht hier ein reges Durcheinander von Rucksacktouristen, Japanern und sonstigen Reisenden. Den Bus in den Altstadtbezirk Higashiyama kann man nehmen, ohne jemanden zu stören. Viele Plätze sind frei. Auf dem Parkplatz vor dem Kodaiji-Tempel stehen nur vereinzelte Autos. Keine Reisebusse wie noch im Herbst. Das Café an der Ecke hat zu, der Souvenirladen daneben auch. Und im Tempel sagt der Buddha-Priester Tensho Goto: «Es ist hart jetzt, nicht wahr?»
Der Kodaiji-Tempel gehört zu einer Schule des Zen-Buddhismus. Er könnte also genau der richtige Ort sein, um aus den quälenden Gedanken an Pandemie und Zukunft in eine erleuchtende Leere zu finden. Aber Tensho Goto will sich nicht raushalten aus den irdischen Fragen dieser Zeit. Auch der Kodaiji-Tempel, 1606 erbaut zum Gedenken des Feldherrn Toyotomi Hideyoshi, lebt zum Teil vom Tourismus. Bis zu 900'000 Menschen besuchen ihn in normalen Jahren, zahlen 600 Yen (5,10 Euro) Eintritt und kaufen vielleicht noch einen Talisman oder einen Gebetszettel in der Bude vor dem Tempel. Tensho Goto ist Botschafter der Japanischen Fremdenverkehrszentrale. Und im vergangenen Jahr erreichte er ein weltweites Medienecho, weil er Messen mit dem Gebetsroboter Mindar einführte, die jetzt natürlich auch nicht stattfinden können.
Übertourismus ist für Tensho Goto kein Problem, im Gegenteil. «Viele Leute sollen nach Kyoto kommen», sagt er, «der freie Zugang zur Welt ist für mich sehr wichtig.» Die Stadt braucht Gäste. Er hat das Gefühl, jetzt, da sie nicht mehr da sind, fällt das allen auf. «Mittlerweile klagen auch die Leute, die gegen Übertourismus waren.»
Es wird dauern, bis die Menschen wieder auf Reisen gehen. Die Bekämpfung der Pandemie kann Jahre in Anspruch nehmen.
Tensho Goto sitzt an einem grossen runden Tisch im Tempel und wirkt so furchtlos, als schütze ihn seine Mönchsrobe vor den Unwägbarkeiten der Pandemie. Als alter Zen-Buddhist weiss er, wie er sich von den Sorgen des Alltags frei macht. Angst hält er für keinen guten Berater. Und dass er die Fahrten nach Tokio zu den verschiedenen Ministerien als Tourismusbotschafter nicht vermisst, kann man ihm auch glauben. Insofern greift ihn die Krise nicht an. Aber als Mitmensch und Bürger der Stadt kann er eben doch nicht so einfach über den Stillstand hinwegmeditieren.
Tensho Goto hat Kontakt zu den Hoteliers und Wirten in der Stadt, denen seit Wochen die Kundschaft fehlt. Als Tourismusbotschafter überlegt er mit ihnen Strategien, um in der Krise zu überleben. Lieferservice. Online-Angebote. Die Internetkampagne #StayHome&#SaveRestaurants gibt es schon. Als Priester versucht Goto, sie moralisch zu unterstützen, ihnen Halt zu geben mit seiner buddhistischen Seelenruhe. Aber was auch immer er für die Hoteliers und die Wirte tut: Am Ende bleibt die grausame Tatsache, dass sie jetzt alle kaum noch Geld verdienen. «Sie sagen, sie können nicht schlafen», sagt Goto, «die Angst, das Geschäft zu verlieren, ist grösser als die Angst vor Corona.»
Zumal es in dieser Krise kein Ende zu geben scheint. Die Infektionszahlen steigen. Es sieht nicht so aus, als könne die Notstandserklärung wie geplant am 6. Mai auslaufen. Und selbst wenn: Es wird dauern, bis die Menschen wieder auf Reisen gehen. Manche Virologen sagen, dass die Bekämpfung der Pandemie Jahre in Anspruch nehmen werde. Was heisst das für die Hoteliers? Sollen sie aufgeben? Ist ihre Pleite der Preis für eine Welt ohne Coronavirus? Tensho Goto sagt: «Für die Leute ist es schlimm, dass sie gar keine Zukunft sehen.»
An der Auffahrt zum Gokoku-Schrein trainiert ein Läufer. Keine Störung durch Passanten und Verkehr, perfekte Bedingungen. Kyotos neue Ruhe hat auch ihre Vorteile. Wenig später steht man vor dem geschlossenen Tor des Ryozen-Museums, das sich mit der Geschichte der Meiji-Restauration befasst. Ein paar Meter weiter oben duckt sich das Ryozen-Hotel am Hang. Geschlossen, natürlich. An einer Plakatwand hängt ein Papier, auf dem in ordentlicher Filzstiftschrift steht, dass gerade keine Veranstaltungen stattfinden können. Weiter geht es durch die leeren Gassen Richtung Kiyomizu-dera, vorbei an leblosen Geschäften und dunklen Fenstern. Bis plötzlich eine bunte Auslage die Zeile der geschlossenen Läden unterbricht.
Hidemi Ois Nippes-Verkauf hat geöffnet. «Wir wollen nicht, dass niemand da ist. Deshalb schliessen wir nicht», erklärt er. Hidemi Oi steht in seinem engen Laden zwischen grüssenden Plastikkatzen und Geisha-Figürchen mit Wackelkopf wie ein stolzer Kapitän, der sein sinkendes Schiff nicht verlässt, und wirkt überhaupt nicht angeschlagen. Er wirkt sogar eher aufgekratzt. Seit 200 Jahren betreibe seine Familie das Geschäft an dieser Stelle der Altstadt, Schwankungen im Publikumsverkehr habe es in dieser Zeit immer gegeben. Die Expo 1970 in Osaka brachte den ersten markanten Besucheranstieg. In der Ölkrise 1973 war dann wieder wenig los.
In den vergangenen Jahren war die Gasse meistens so voll, dass man fast anstehen musste, um durchzukommen. Das Geschäft lief glänzend, aber in der Stadt mussten Einheimische manchmal drei Busse wegfahren lassen, weil sie wegen der vielen Touristen nicht reinkamen. «Im Café hatten wir keinen Platz», sagt Oi. Damals, in den Zeiten des Übertourismus. Jetzt sind die Zeiten eben anders. «Anfang Februar war noch ein bisschen was los.» Danach wurde es einsam zwischen den niedrigen Häusern von Higashiyama.
Seine Bilanz der vergangenen Tage? «Zero. Zero. Zero. Zero.» Er lacht.
Hidemi Oi ist nicht zu bremsen. Er verschenkt Glücksbringer. Zeigt Fotos. Erzählt in schnellen Sätzen von seiner Haltung zur Krise. «Immer lächeln. Wenn man lächelt, kommt der Gott des Glücks.» Sein Optimismus wirkt unverwüstlich, Pandemie hin oder her. «Que será, será», sagt er. Spanisch mit japanischem Akzent. Was passiert, passiert eben. Hadern bringt nichts. «Solange Kiyomizu-san existiert, kommen die guten Zeiten zurück.» Und dass das Coronavirus den alten Tempel kaputt macht, hat Hidemi Oi bisher noch nicht gehört. Also denkt er jetzt einfach nicht zu viel darüber nach, dass keine Kundschaft und damit auch kein Geld reinkommt. Seine Bilanz der vergangenen Tage? «Zero. Zero. Zero. Zero.» Er lacht.
Vor der Treppe zum Kiyomizu-dera stehen Sicherheitsleute mit Schutzmasken. Sie wirken ein bisschen verloren in der Weite des Vorplatzes, aber immerhin ist jemand da. An der Haupthalle ist nur eine Kasse geöffnet, mehr wären auch übertrieben. Und dann steht man also auf der grossen Holzterrasse in dieser herrlichen Ruhe, die ein Symptom der Pandemie ist.
Wie lange kann Kyoto es aushalten, nicht von den Massen besucht zu werden? Wessen Betrieb ist noch da, wenn die Touristen wiederkommen? «Um die kritische Situation zu meistern, werden wir Unternehmen unterstützen, die sich für den Bestand ihres Geschäfts einsetzen (...)», hat der Bürgermeister Daisaku Kadokawa in seiner E-Mail-Antwort geschrieben. Wahrscheinlich weiss er selbst noch nicht, was das genau heisst. Und der Priester Goto hat gesagt: «Zuerst muss man die Zukunft denken wie einen Traum. Vielleicht kann man dann eine Brücke in die Wirklichkeit schlagen und eine konkrete Lösung finden. Aber ich vermute, es wird viele Bankrotte geben.» Alle sind ratlos. Nur eines ist klar: Kyoto will seine Touristen zurück.
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