Anri Sala im Interview«Kunst gibt den subtilen Tönen Raum, die im Kriegslärm überhört werden»
Im Vorfeld der Art Basel ist der albanische Künstler Anri Sala im Schaulager zu sehen. Er sagt, man müsse gerade auch in herausfordernden Zeiten über Feinheiten nachdenken können.
Für seine grenzüberschreitende Kunst wurde Anri Sala (49) vielfach ausgezeichnet. Geboren in Tirana, ausgebildet in Paris, lebt er jetzt in Berlin. Er repräsentierte Frankreich an der Kunstbiennale Venedig und wurde mit Ausstellungen in Turin, Taipeh, Mexiko-Stadt, Paris oder Bregenz geehrt. In seinen Filmen und Installationen erkundet Sala gesellschaftspolitische Auffälligkeiten, oft vor der Kulisse persönlicher Erfahrung. Zurzeit wird eines seiner zentralen Videowerke in der Ausstellung «Out of the Box» gezeigt, mit der das Basler Schaulager im Vorfeld der Art Basel sein 20-Jahr-Jubiläum feiert.
Herr Sala, der Titel der Basler Ausstellung, in der Ihr Werk gerade zu sehen ist, verweist auf das Credo des Schaulagers, nachdenkliche und nicht «modische» Kunst zu zeigen. Inwiefern ist Ihre Arbeit «out of the box»?
Ich interessiere mich für den Raum zwischen den Dingen, das Intervall zwischen den Noten. Wenn etwas weder A noch B ist, sondern die Lücke dazwischen, zwingt es einen, aufmerksam zu sein, entzieht sich gängigen Vorstellungen und ideologischer Vereinnahmung.
In Ihrer Arbeit «Ravel Ravel Interval» spaziert man sozusagen zwischen den Händen von zwei Pianisten, die dasselbe Maurice-Ravel-Konzert spielen.
Ja, zwei verschiedene Interpretationen von Ravels Klavierkonzert für die linke Hand sind zu hören und werden nebeneinander sowie hintereinander projiziert. Die Besucher können vor oder zwischen den beiden Projektionen spazieren.
Was hat Sie dazu bewogen, ausgerechnet «Konzert für die linke Hand» von Maurice Ravel so zu inszenieren? Sind Sie Linkshänder?
Nein, das bin ich nicht. Obwohl, wenn ich es wäre, wüsste ich es vielleicht nicht einmal, denn in Albanien, wo ich aufwuchs, wurde die Linkshändigkeit den Kindern ausgetrieben.
Im Westen war das nicht anders.
Ja, damals gab es überall einen Zwang. Gerade darum fasziniert mich die linke Hand, weil sie als unbeholfen gilt. Dabei kann sie so viel! Stellen Sie sich vor, was für eine Herausforderung es für die linke Hand ist, allein über die gesamte Länge der Klaviertastatur zu spielen. Interessanterweise gibt es Tausende von Kompositionen, die nur für die linke Hand geschrieben wurden, und nur ein paar Hundert für die rechte Hand allein.
Gibt es dafür eine Erklärung?
Die öfter gebrauchte rechte Hand ist anfälliger für Verletzungen. Deshalb entstand überhaupt erst das Bedürfnis, Klavierstücke zu komponieren, die nur mit der linken Hand gespielt werden können. Im Ersten Weltkrieg kam es dann zu einer Explosion von Körperverstümmelungen. Waffen wurden mit der rechten Hand bedient, Granaten und Schrapnells machten viele Musiker, die in den Schützengräben kämpften, zu Invaliden. Einer dieser Musiker war Paul Wittgenstein, der Bruder des berühmten Philosophen Ludwig. Paul verlor im Krieg seinen rechten Arm, und um seine Pianistenkarriere nicht aufgeben zu müssen, gab er bei vielen grossen Komponisten seiner Zeit Musikstücke für die linke Hand in Auftrag – insgesamt 40 Kompositionen. Das berühmteste unter ihnen ist eben Maurice Ravels «Concerto pour la main gauche».
«Die Geschichte hinterlässt Narben.»
Mir ist aufgefallen, dass der Krieg oft im Hintergrund Ihrer Arbeit steht.
Welche Werke sprechen Sie an?
Zum Beispiel «Time No Longer», in dem Olivier Messiaens «Quartett für das Ende der Zeit» vorkommt, das Messiaen 1941 in deutscher Kriegsgefangenschaft schrieb. Oder «1395 Tage ohne Rot», das während der Belagerung von Sarajevo spielt. Sind Sie besonders sensibel für kriegsbedingte Brüche in der Geschichte?
Die Geschichte hinterlässt Narben, und das tut sie nicht nur auf dem Balkan oder in Osteuropa. Anderswo gab es mehr Kontinuität – aber auch an diesen Orten gab es Geschichte, und damit gab es auch Brüche.
Sprechen Sie von der Schweiz?
Ja, zum Beispiel. Oberflächlich betrachtet, hat die Schweiz mehr Kontinuität erfahren als Albanien. Aber das macht ihr historisches Narrativ nicht weniger komplex.
Warum?
Weil die Brüche diskreter sind. Die Ereignisse sind lange im Verborgenen geblieben. Damit man sie versteht, muss erst die scheinbar problemlose Kontinuität infrage gestellt werden.
«Der stalinistische Machtapparat, der in Albanien eingesetzt wurde, war enorm effizient. Die Kontrolle war total.»
Wenn man an Ihre Arbeit «Intervista» denkt, in der Sie die Vergangenheit Ihrer Mutter als kommunistische Jugendführerin in der Diktatur Enver Hoxhas thematisieren, wird deutlich, dass auch klare Systemwechsel Raum für Interpretationen lassen.
Als ich «Intervista» machte, war ich Kunststudent in Paris. Bei einem Besuch in Tirana fand ich einen alten 16-mm-Film aus dem Jahr 1977, auf dem meine Mutter bei einem Interview im staatlichen albanischen Fernsehen zu sehen ist, aber die Tonspur war verloren. Ich habe die Worte, die sie im alten Film ausspricht, von Gehörlosen rekonstruieren lassen, die von den Lippen lesen können.
Im Film sieht man, wie Ihre Mutter diesen rekonstruierten Worten zuhört, aber sie versteht die Sätze, die sie einst sprach, nach 20 Jahren nicht mehr. Warum?
Weil nicht nur die Bedeutung der Worte, sondern auch die Art und Weise, wie Sätze gebildet wurden, von der Ideologie und der Diktatur bestimmt wurden. Das Regime kontrollierte die Syntax ebenso sehr wie den Inhalt. Der stalinistische Machtapparat, der in Albanien eingesetzt wurde, war enorm effizient, auch weil Albanien ein kleines Land ist, viel kleiner als die Sowjetunion – die Kontrolle war total.
Was bedeutet es für Sie, dass das Gespenst des Krieges in Europa wieder auferstanden ist?
Das Schreckgespenst des Krieges ist leider eine quälende Konstante auf dem Balkan. Westeuropa betrachtete den Krieg hingegen jahrelang als ein Ding der Vergangenheit oder als ein Stigma unterentwickelter Regionen. Mit dem Krieg in der Ukraine ist sein Gespenst durch die Fernsehübertragungen in die Wohnzimmer ganz Europas gewandert.
Wie reagiert man als Mensch, wie als Künstler darauf?
Es kann keine Ambivalenz geben in der Unterscheidung zwischen den Verursachern der Aggression und denjenigen, die unter ihr leiden. In diesem Sinne verurteile ich als Mensch das tyrannische und imperialistische Verhalten eines Landes gegen ein anderes auf das Schärfste. Gleichzeitig halte ich es für wichtig, dass die Kunst auch weiterhin den subtilen Tönen Raum gibt, die inmitten des Kriegslärms übersehen und überhört werden.
Aber kann Kunst überhaupt auf die Aktualität reagieren?
Die Kunst muss sich nicht von den lautesten Themen der Aktualität vereinnahmen lassen, sie hat andere Möglichkeiten, auf die Ereignisse zu reagieren.
Welche?
Sie kann dem Einzelnen die Möglichkeit bieten, in seinem eigenen Tempo über Feinheiten und Nuancen nachzudenken, die auch in herausfordernden Zeiten für menschliches Verhalten von grösster Bedeutung sind.
Sie brechen hier eine Lanze für eine geheimnisvolle Kunst. Politische oder aktivistische Kunst, die klar Stellung bezieht, ist aber wieder aktuell.
Ist das, was Sie als politische Kunst bezeichnen, wirklich politisch oder eher ideologisch?
Worin liegt der Unterschied?
Politisch zu sein, bedeutet, andere infrage zu stellen, angefangen bei einem selbst. Ideologisch zu sein, schliesst die Selbstkritik aus und verleitet dazu, «zu den Bekehrten zu predigen», wie es heute oft praktiziert wird. Es ist politisch, nicht ganz mit unserer Zeit übereinzustimmen, während es ideologisch ist, sich kritiklos den Anforderungen des Zeitgeistes anzupassen. Ich orte übrigens noch eine andere Gefahr für die Kunst unserer Zeit.
Wo?
Im Wunsch nach fabrizierter Immersion. Alles will heute immersiv sein, aber die Immersivität hat politische Auswirkungen. Diese Tendenz, sich lieber in den Mittelpunkt einer technologisch erzeugten Van-Gogh-Landschaft zu stellen, als das Originalwerk zu erleben, scheint mir ein gefährliches Symptom unserer Zeit zu sein.
Warum gefährlich?
Wegen des Verlusts der kritischen Distanz. In diesen sogenannten «immersiven Installationen» wird die Technologie zu einem stumpfen Werkzeug. Verstehen Sie mich richtig, ich habe nichts gegen Videospiele oder virtuelle Realität. Unkritisch eingesetzt, können sie jedoch auf eine billige Weise dem Ego schmeicheln und den Eindruck erwecken, der Zuschauer befinde sich im Zentrum der Welt. Es entsteht eine Kluft zwischen Erwartung und Wirklichkeit, die der Demagogie und der Desinformation Tür und Tor öffnet.
Die Rolle der Kunst für die Gesellschaft wird sowieso gerade durch die Ankunft der künstlichen Intelligenzen neu verhandelt. Hat die Kunst, wie wir sie kennen, überhaupt eine Zukunft?
Ich bin ein Optimist und glaube, dass Kunst immer Kunst bleiben wird, ein Seismograf der ständigen Veränderung und Befreiung.
Auch die Kunst, die Computer eines Tages produzieren werden?
Der Moment der Schöpfung kann nicht an einen Algorithmus delegiert werden. Es erfordert einen Moment des Staunens. Und ein Code kann sich selbst niemals überraschen.
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