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Meinung

Kolumne von Milo Rau
Kriegslandschaft mit gef***ten Passanten

Ein ganz normaler Morgen – nur dass gerade ein desaströser Krieg stattfindet: Ein Mädchen geht über die Ruinen im zerstörten Westteil der syrischen Stadt Aleppo (5. Dezember 2016).
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Eines der unvergesslichsten Fotos, das ich kenne, stammt aus dem Zweiten Weltkrieg. Darauf ist der Morgen nach einer Berliner Bombennacht zu sehen, vermutlich so um 1944, als der Holocaust auf dem Höhepunkt stand. Auf dem Foto eilen die Menschen zur Arbeit, zentral im Hintergrund dringt aus der neoklassizistischen Kuppel einer Kirche, die ich auch nach zehn Jahren Berlin nie lokalisieren konnte, dicker Rauch.

Nichts gewöhlicher als das: Bilder zerstörter deutscher oder russischer Städte, das kennt man aus dem Geschichtsunterricht, so wie heute aus dem Fernsehen die Bilder syrischer oder irakischer Städte. Umso interessanter deshalb die Reaktion der Passanten: Sie gehen an der Zerstörung vorbei, als wäre nichts. Mit ihren charmanten 40er-Jahre-Filzhütchen wirken sie einem Bild des französischen Fotografen Cartier-Bresson entnommen. Nur eine Gruppe Kinder ist stehengeblieben und guckt zur Kirche – wohl in der Hoffnung, sich ein wenig zu verspäten beim Unterricht.

Wenn das Toben des Kriegs plötzlich unhörbar wird

Kurzum: Das Foto zeigt einen ganz normalen Morgen, nur dass eben gerade der desaströseste Krieg aller Zeiten stattfindet. Man kann sich gut vorstellen, wie diese Passanten später auf die Idee kamen, an der ganzen Sache nicht beteiligt gewesen zu sein. Anfangs hatten sie sich gefragt, wohin wohl ihre jüdischen Nachbarn verschwunden waren, warum ein wenig später ihre eigenen Kirchen brannten. Dann wurde die ganze Sache zum Hintergrundrauschen, unhörbar im Lauf der Tage. Und die Tage gingen 1944 ins Land wie in jedem anderen Jahr auch: Prüfungen für die Kinder, Stress mit dem Chef für die Erwachsenen. Das Gequassel von Promis, unerfreuliche Nachrichten von den Grenzen. Bis es eben vorbei war und die Städte, ein bisschen hässlicher, wieder aufgebaut wurden.

Man kann sich im Bombenkrieg genauso über die Kochdauer des Frühstückseis unterhalten wie mitten im Frieden.

Vielleicht liegt darin der grosse politische Irrtum: Man muss nicht mit etwas einverstanden sein, um es zu ermöglichen. Man normalisiert das Inakzeptable nicht, indem man es plötzlich toll findet, sondern indem man sich auf anderes konzentriert. Man kann sich im Bombenkrieg genauso über die Kochdauer des Frühstückseis unterhalten wie mitten im Frieden. Vor zehn Tagen verkündete ich in einem in einem Interview, Corona sei eine «Lektion», die wir im Hinblick auf die Klimakrise lernen müssten. Es sei keine Option, zur Normalität zurückzukehren, denn sonst seien wir «gefickt». Worauf auf Facebook eine Minidebatte über die Korrektheit des besagten Wortes losbrach.

Nun ja: Meine Kinder gehen ab Mittwoch wieder zur Schule. Dort werden sie aus 20 Jahre alten Büchern genau das Gleiche lernen, was ich in den 90ern aus genauso veralteten Büchern gelernt hatte. Sollten ihre Schulen aus irgendwelchen Gründen zerstört werden, werden wir sie woanders wieder aufbauen. Nur keine Verzögerungen! Und falls es jemanden seltsam anmutet, dass unser Kinder mit Atemschutzmasken die Namen ausgestorbener Tierarten lernen, während in den Flüchtlingslagern an Europas Grenzen Kinder ihres Alters sterben: Dann sollten wir uns jetzt schleunigst darüber unterhalten, ob «gefickt» eine korrekte Ausdrucksweise ist.

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