Krieg in Nahost Ein Angriff, der an ein altes Trauma rührt
50 Jahre nach dem Beginn des Jom-Kippur-Kriegs schockiert die Hamas Israel mit einer Attacke, die das Land nicht hat kommen sehen. In Windeseile schliessen sich nun die innenpolitischen Gräben.
Es ist ein Angriff aus dem Nichts, im Morgengrauen des Schabbats: Vom Gazastreifen aus hat die palästinensische Hamas eine breit angelegte Attacke gestartet, die Israel in Schock versetzt. Gleich in den Anfangsstunden gibt es viele Tote und Verletzte, dazu Berichte über Geiselnahmen. So taumelt das Land zum Ausgang der Laubhüttenfest-Feiertage in einen neuen Krieg, der an ein altes Trauma rührt – an den Überraschungsangriff im Jom-Kippur-Krieg vor exakt 50 Jahren.
Wie damals die Ägypter und Syrer, so hat nun die Hamas das Überraschungsmoment genutzt, um Israel gleich zu Beginn sehr heftige Schläge zu versetzen. Raketen schlugen nicht nur rund um den Gazastreifen ein. Der schrille Ton der Alarmsirenen weckte und erschreckte am Samstagmorgen auch die Menschen bis hinauf nach Tel Aviv und Jerusalem.
Weit schlimmer noch aber sind die Angriffe, die am Boden geführt werden. Offenbar konnten Dutzende von Hamaskämpfern die festungsartige Grenze überwinden, die Israel rund um den 40 Kilometer langen Küstenstreifen gezogen hat. Eingedrungen sind sie offenbar zu Land, übers Wasser und einem Armeesprecher zufolge sogar aus der Luft per Gleitflieger. Videos zeigen Schiessereien in grenznahen israelischen Gemeinden. Es gibt im Nebel der Gefechtslage zunächst noch unbestätigte Berichte über Geiselnahmen. Via Internet verbreiten sich Hilferufe von Bewohnern, die sich in ihren Wohnungen verbarrikadiert haben und stundenlang auf die Hilfe israelischer Sicherheitskräfte warten.
Israels Sicherheitsapparat wird überrumpelt
Dieser Kontrollverlust ist der wahre Schock für Israel. Der gesamte Sicherheitsapparat wird überrumpelt von einem Angriff, der offenkundig von langer Hand geplant worden ist. Die israelischen Geheimdienste, die sonst jeden Schritt in den Palästinensergebieten überwachen, haben davon offenkundig nichts gemerkt. Unvorstellbar ist das eigentlich – und eine fast bizarre Volte der Geschichte. Denn in den zurückliegenden Tagen und Wochen hatte sich Israel wieder intensiv mit einem solchen Versagen beschäftigt, anlässlich des 50. Jahrestags des Jom-Kippur-Kriegs.
Der begann am 6. Oktober 1973. Es war der erste und einzige Krieg, der Israel an den Rand einer Niederlage und damit in existenzielle Gefahr brachte. 50 Jahre und einen Tag später, am 7. Oktober 2023, lässt nun die Hamas aus Gaza ein donnerndes Echo folgen. Natürlich sind die Zeiten anders und auch die Kräfteverhältnisse. Militärisch werden die Kämpfer der Hamas der hochgerüsteten israelischen Armee auf Dauer nicht viel entgegenhalten können, wenn sich der erste Nebel gelichtet hat. Aber die Symbolkraft dieses Überraschungsangriffs ist nicht zu übersehen, und sie ist enorm schmerzhaft für Israel.
Die Führer der Hamas begleiten diesen Angriff mit grossspurigen Worten und Drohungen. «Das ist der Tag der grössten Schlacht», erklärte Mohammed Deif, der militärische Führer der Organisation. Er vermeldet schon nach wenigen Stunden, dass 5000 Raketen auf Israel abgefeuert worden seien. Israels Armee bestätigt immerhin die Hälfte davon – und dies ist gewiss erst der Anfang eines Waffengangs, der aller Voraussicht nach so schnell nicht enden dürfte.
Warum die Hamas zum jetzigen Zeitpunkt angegriffen hat und was sie damit am Ende erreichen will, bleibt dennoch rätselhaft. Gewiss hatte es jüngst wieder Krawalle am Grenzzaun gegeben, doch die waren eher als Hilferuf verstanden worden und als Druckmittel, um mehr internationale Hilfe in den wegen der israelischen Blockade verelendeten Gazastreifen mit seinen mehr als zwei Millionen Bewohnern zu bekommen. Zudem gibt es seit längerem schon eine Gewalteskalation im Westjordanland mit fast 200 getöteten Palästinensern allein in diesem Jahr. Zurzeit kommen noch Streitigkeiten um eine Vielzahl jüdischer Besucher auf dem Tempelberg zum Laubhüttenfest hinzu. Doch mit einem solchen Kriegsausbruch hat niemand gerechnet, zumal die Hamas – und viel mehr noch die Bevölkerung des Gazastreifens – in allen vorangegangenen vier grösseren Kriegen seit 2008 stets einen hohen Preis bezahlt hatte.
Womöglich aber sah die Hamas nun einen günstigen Zeitpunkt gekommen, weil Israel in seiner bislang grössten innenpolitischen Krise steckt. Der seit Jahresbeginn tobende Streit um den von der rechten Regierung betriebenen Umbau des Justizsystems hat auch die Verteidigungsbereitschaft des Landes infrage gestellt. In grosser Zahl hatten Reservisten angekündigt, in dieser Situation nicht mehr zum Dienst zu erscheinen.
Schreckensszenario Mehrfrontenkrieg
Zudem mag die Hamas die Hoffnung hegen, dass sich nun auch noch andere militante Organisationen ihrem Kampf anschliessen. Ein Mehrfrontenkrieg mit Angriffen aus Gaza im Süden und aus dem Libanon im Norden ist Israels grösstes Schreckensszenario, zumal dahinter die Hand des Regimes aus Teheran stecken dürfte. Der Islamische Jihad in Gaza hat bereits den Schulterschluss verkündet. Die Hizbollah-Miliz im Libanon gewährt zunächst einmal rhetorische Unterstützung und bezeichnet die Angriffe als eine Warnung an all jene arabischen Staaten, die ihre Beziehungen mit Israel bereits normalisiert haben oder darüber verhandeln. Das richtet sich in erster Linie an Saudiarabien.
Auf israelischer Seite geht es nach der ersten Konfusion nun darum, schnell wieder die Kontrolle über das Kampfgeschehen zu erlangen. «Die Hamas hat heute Morgen einen schweren Fehler begangen und einen Krieg gegen den Staat Israel begonnen», rief Verteidigungsminister Yoav Galant. «Wir werden diesen Krieg gewinnen.» Schon zwei Stunden nach dem ersten Raketenbeschuss flogen israelische Kampfjets erste Angriffe auf den Gazastreifen. Reservisten werden in grosser Zahl eingezogen – und die Hamas-Hoffnung auf Verweigerungen dürfte sich kaum erfüllen. Die Protestorganisation der Reservisten, die sich «Waffenbrüder und -schwestern» nennt, hat alle aufgerufen, in dieser Situation zum Dienst zurückzukehren.
In Windeseile schliessen sich nun in Israel die innenpolitischen Gräben. Oppositionsführer Yair Lapid hat der Regierung für die ausgerufene Militäraktion «Eiserne Schwerter» volle Unterstützung zugesagt. Die sonst üblich gewordenen Demonstrationen am Samstagabend sind abgesagt, zum ersten Mal seit 40 Wochen. Es ist Krieg, und Israel ist zur Geschlossenheit gezwungen.
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