Anklage gegen Kosovos PräsidentenHashim Thaci soll für fast 100 Morde verantwortlich sein
Der kosovarische Staatschef muss sich wegen Kriegsverbrechen während des Kosovokonflikts verantworten. Ihm und anderen Ex-Rebellen werden Mord und Folter vorgeworfen.
Ein Sondertribunal mit Sitz in Den Haag hat am Mittwoch Anklage gegen Kosovos Präsidenten Hashim Thaci wegen Kriegsverbrechen erhoben. Thaci und sein Geheimdienstchef aus Kriegszeiten, Kadri Veseli, der ebenfalls angeklagt wurde, sollen schuldig sein für etwa 100 Morde an serbischen Zivilisten, Roma und Kosovo-Albanern, die als serbische Kollaborateure oder politische Gegner galten.
Die Anklageschrift sei «das Ergebnis einer langwierigen Untersuchung», heisst es in der Mitteilung des Sondergerichts. Thaci, Veseli und acht weitere Ex-Kämpfer sollen immer wieder versucht haben, die Arbeit der Justiz zu behindern. Das Tribunal sei entschlossen, alle Anklagepunkte zweifelsfrei zu beweisen. Die Anklage muss noch von einem Richter des Sondertribunals bestätigt werden.
Thaci war seit Kriegsende vor 20 Jahren meist der dominierende politische Führer Kosovos. Veseli – er ist Chef der oppositionellen Demokratischen Partei Kosovos – war bis Ende 2019 Parlamentspräsident. Die beiden Politiker haben in den 90er-Jahren zeitweise in der Schweiz gelebt – Thaci in Zürich, Veseli im Raum Freiburg. Sie waren die wichtigsten Befehlshaber der kosovarischen Befreiungsarmee (UCK), die mithilfe der Nato das serbische Terrorregime aus Kosovo vertrieb. Vor allem nach dem Krieg kam es zu Vergeltungsaktionen von UCK-Rebellen. Opfer der Mordkampagne wurden neben Angehörigen von Minderheiten oft auch Anhänger des moderaten Präsidenten Ibrahim Rugova.
Thaci wollte Sondertribunal abschaffen
Dass die ehemaligen Freischärler von der internationalen Justiz belangt werden, ist einem Schweizer Politiker zu verdanken. Der frühere FDP-Ständerat Dick Marty veröffentlichte im Dezember 2010 im Auftrag des Europarats einen Bericht über mutmassliche Kriegsverbrechen der kosovo-albanischen Rebellen. Es geht um ethnisch motivierte Vertreibungen, Entführungen und Hinrichtungen. Marty warf den UCK-Führungsfiguren auch Handel mit Organen von gefangenen Serben und Roma vor. Stichhaltige Beweise dafür lieferte er nicht. Kopf der Verbrecherbande sei Hashim Thaci gewesen, behauptete Marty.
Als Martys Bericht erschien, war Thaci Ministerpräsident Kosovos. Er wies die Vorwürfe zurück, verglich den Tessiner mit Joseph Goebbels und drohte mit einer Klage, die nie erfolgte. Seit 2016 ist Thaci Staatschef – und seither hat er einige Schritte unternommen, um die Arbeit der Justiz zu torpedieren. Er versuchte, das Sondertribunal per Parlamentsentscheid abzuschaffen. Das wurde von westlichen Diplomaten verhindert. In den letzten Jahren haben Menschenrechtler die Einschüchterung von Zeugen angeprangert. Mehrere Zeugen haben Suizid begangen oder sind unter ungeklärten Umständen gestorben. Einige geschützte Zeugen sollen in der Schweiz leben.
Reise abgebrochen
Laut Menschenrechtlern gelten über 1600 Menschen in Kosovo als vermisst. Davon sind etwa 500 Serben und Roma. Die Anklage gegen Thaci und Veseli erfolgt zu einem bemerkenswerten Zeitpunkt. An diesem Samstag wurde Thaci zu Gesprächen im Weissen Haus erwartet. Geplant war dort ein Treffen mit dem serbischen Staatschef Aleksandar Vucic, um eine Lösung des Kosovokonflikts zu erreichen. Serbien anerkennt Kosovo nicht. Nach Bekanntwerden der vorläufigen Anklageschrift brach Thaci seine Reise ab. In Washington soll das kleine Balkanland nur von Premierminister Avdullah Hoti vertreten werden.
Der Diplomat und Trump-Vertraute Richard Grenell macht Druck für einen schnellen Deal auf dem Balkan. Die USA haben in der Vergangenheit auch Grenzänderungen oder einen Gebietstausch zwischen den beiden Staaten nicht ausgeschlossen. Thaci und Vucic sollen diese Option unterstützen. Die meisten EU-Staaten, darunter Deutschland, lehnen Grenzänderungen auf dem Balkan vehement ab.
Fehler gefunden?Jetzt melden.