15 Fakten zur StromversorgungDrohen Blackouts oder Strommangel? Und brauchen wir Gaskraftwerke?
Die Schweiz diskutiert die Sicherheit ihrer Stromversorgung. Wir haben mit Experten gesprochen.
Wie stark ist die Schweiz ins europäische Stromnetz eingebunden?
Physisch ist die Schweiz so stark wie kein anderes Land in das europäische Verbundnetz integriert. Es gibt 41 Grenzleitungen, welche die Schweiz mit unseren Nachbarländern verbinden. Die Schweizer Speicherseen sind grosse Energiespeicher für ganz Europa. Eine Schweizer Netzstabilität gibt es laut dem Schweizer Netzbetreiber Swissgrid nur im europäischen Kontext. Die grosse Anzahl an Kraftwerken im europäischen Netz bewirkt, dass der Ausfall eines einzelnen Kraftwerks leichter bewältigt werden kann. Dank der engen europäischen Zusammenarbeit können Kraftwerksausfälle – aber auch Überproduktionen – kompensiert werden.
Nun zeigt eine neue Studie des Bundes: Ab 2025 können im Extremfall Strommangellagen auftreten. Was heisst das konkret?
Unsere Nachbarländer müssen bis spätestens Ende 2025 mindestens 70 Prozent der grenzüberschreitenden Stromkapazitäten für den Handel zwischen den EU-Mitgliedstaaten reservieren. Drittstaaten wie die Schweiz zählen grundsätzlich nicht zu diesen 70 Prozent. Können die Nachbarstaaten diese Regel nicht erfüllen, werden sie den Export in die Schweiz einschränken müssen. Die Regelung betrifft vor allem den Winter, weil in dieser Jahreszeit am meisten importiert wird.
Ist es richtig, dass Medien und Politiker sogar von einem Blackout sprechen?
Man muss präzise sein. Die Studie spricht von einer Mangellage. Im Unterschied zu einem Stromausfall, also einem Blackout, ist Strom verfügbar, allerdings in reduziertem Mass, und dies während mehrerer Tage, Wochen oder Monate. Blackouts können sich eigentlich auch sonst immer ereignen, etwa durch ungeplante Abschaltungen grosser Stromproduzenten, durch Naturkatastrophen, Cyberattacken oder Terroranschläge. Swissgrid spricht bei einem grossflächigen Stromausfall von einem Blackout. Das Risiko dafür sei aber nach wie vor klein.
Wären bei einem Blackout in der Schweiz auch umliegende Länder betroffen?
Wenn es zu einer Grossstörung kommt, ist das gesamte europäische Netz betroffen. Die Schweiz kann man nicht losgelöst vom gesamteuropäischen Übertragungsnetz betrachten.
Was ist, wenn der schlimmste Fall eintritt?
Die Studienautoren haben eine «besonders schwierige Stresssituation» definiert: Die beiden Reaktoren des Kernkraftwerks Beznau und ein Drittel der französischen Kernkraftwerke sind nicht verfügbar. Dass dieses Szenario eintritt, schliessen sie nicht aus, halten es aber für «eher unwahrscheinlich». Marianne Zünd vom Bundesamt für Energie sagt dazu: «Wenn die 70-Prozent-Regel von der EU 2025 tatsächlich in der strengstmöglichen Interpretation durchgesetzt wird und dann noch gleichzeitig zu wenig Energie in der Schweiz und in Europa vorhanden ist, dann, aber auch nur dann, könnten wir allenfalls während einiger Stunden im späten Winter zu wenig Strom haben.»
Mit der 70-Prozent-Regel nimmt vermutlich der Handel innerhalb der EU zu. Hat das Folgen für unsere Stromversorgung?
Solange die Schweiz nicht aktiv an der Stromkapazitätsvergabe teilnehmen kann, so schätzt Swissgrid, ist mit einer Zunahme ungeplanter Stromflüsse durch die Schweiz zu rechnen. Strom sucht sich immer den kürzesten und reibungslosesten Weg zwischen Produzent und Endverbraucher. Ohne Stromabkommen drohen laut Swissgrid deshalb häufiger Situationen, in denen das Netz teilweise überlastet wird. Swissgrid muss dann in den Systembetrieb eingreifen, um das Netz stabil zu halten. Das ist mit hohen Kosten verbunden.
Hätten wir heute schon ein Problem, wenn zum Beispiel das leistungsstärkste AKW der Schweiz, Leibstadt, ungeplant vom Netz müsste?
Das geschilderte Szenario liesse sich dank den Wasserspeicherkraftwerken ausbalancieren. Die Wasserkraft ist im europäischen Netz auch als Regelstrom-Lieferant bedeutend, um die Netzfrequenz bei 50 Hz zu halten. Die Frequenz kann schwanken, wenn Stromangebot und -nachfrage nicht im Gleichgewicht sind. Es ist also existenziell, der Wasserkraft Sorge zu tragen.
Sind die Warnungen vor einer Strommangellage neu?
Nein. Die Eidgenössische Elektrizitätskommission Elcom, die Hüterin über die Stromversorgung, mahnt die Behörden seit langem, den Ausbau der erneuerbaren Energien «dringend» zu beschleunigen, eine hohe Importabhängigkeit führe zu «wesentlichen Risiken», weil die Exportfähigkeit umliegender Länder durch den Ausstieg aus der Atom- und Kohleenergie abnehme und zudem ein Stromabkommen mit der EU in weite Ferne gerückt sei. Noch immer verzögert sich zum Beispiel der Ausbau der Höchstspannungsleitung, um Strom aus Wasserkraftwerken im Wallis ins Mittelland zu befördern. Das Risiko einer Strommangellage würde sich mit dem Ausbau verringern.
Gab es bis jetzt keine kritischen Situationen?
Doch, etwa im Winter 2015/16. Damals fielen Beznau 1 und 2 zeitgleich aus, die Pegel der Flüsse waren tief, die Speicherseen unterdurchschnittlich gefüllt, die Kapazität der Transformatoren limitiert. Die Behörden reagierten indes schnell mit einer Reihe von Massnahmen. Das Problem war nicht zuletzt hausgemacht: Im Herbst zuvor hatten die Energieunternehmen die Speicherseen stark angezapft, weil die Strompreise ab September gestiegen waren. Mit einer Winterstrom-Prämie, die Energieunternehmen für das Speichern von Strom bis in den Winter belohnt, will der Bundesrat dieses Problem nun mindern.
Ist die EU darauf angewiesen, den Strom nach Italien durch die Schweiz zu leiten?
Italien hat kein Versorgungsproblem, sondern ein Preisproblem. Sie importieren den günstigeren Strom aus dem Norden durch die Schweiz. Im Moment investieren sie enorm viel in Stromleitungen mit anderen Staaten. Zum Beispiel zwischen Italien und Österreich (Erdverkabelung). Mit der Umsetzung all dieser Projekte dürfte die Bedeutung der Schweiz als Stromtransitland für Italien signifikant abnehmen.
Die Schweiz hat ein grosses Portfolio an Wind- und Solarstrom im Ausland. Können wir bei einer Strommangellage darauf zurückgreifen?
Dieser Strom gehört zur Stromkapazität der EU, die Schweiz profitiert nicht direkt davon. Die ausländischen Investitionen waren aber trotzdem wichtig. Sie erhöhen die Stromproduktion in Europa – und damit die Wahrscheinlichkeit, dass europäische Länder genügend Strom auch für Exporte haben. Allerdings wären Investitionen im Inland aus Sicht der Versorgungssicherheit sinnvoller. Deshalb ist die Forderung der Stromproduzenten und der Politik richtig, die Einspracheprozesse so zu verändern, dass der dringend nötige inländische Ausbau beschleunigt wird.
Solar- und Windenergie lösen in den nächsten Jahrzehnten die fossilen Kraftwerke ab. Macht das die Energieversorgung instabiler?
Wind- und Solaranlagen sind nicht gleichermassen steuerbar wie konventionelle Kraftwerke, weil sie je nach Wetterlage in ihren Leistungen stark schwanken. Die Zahl der Störungen ist gemäss Swissgrid in den letzten Jahren bereits stark angestiegen. Auch dank der Wasserkraft kann das Netz in der Balance gehalten werden. Aber die europäischen Übertragungsnetzbetreiber suchen nach neuen Lösungen, um künftig das Sicherheitsniveau zu halten. Swissgrid ist zum Beispiel in einem europäischen Konsortium mit Übertragungsnetzbetreibern dabei, indem flexible kleine Erzeugungs- und Lastquellen für einen Markt für Systemdienstleistungen verfügbar gemacht werden.
Warum sind Gaskraftwerke nun plötzlich ein Thema?
Gaskombikraftwerke könnten helfen, etwaige Mangellagen zu überbrücken. Neu ist diese Option nicht, vielmehr ist sie Bestandteil der Energiestrategie 2050, die das Volk 2017 gutgeheissen hat. Der Bundesrat will an dieser Option festhalten – unter der Voraussetzung, dass die Werke klimaneutral betrieben würden. Die Elcom arbeitet derzeit an einer Auslegeordnung.
Und neue Atomkraftwerke?
Zuletzt ist der Ruf nach einer Aufhebung des Neubauverbots wieder lauter geworden. Bundesrätin Sommaruga sieht keinen Bedarf für neue Atomkraftwerke, weil es diese nicht brauche.
Was unternimmt die Swissgrid, um in den nächsten Jahren auch ohne Stromabkommen eine sichere Stromversorgung zu gewährleisten?
Swissgrid arbeitet mit den europäischen Übertragungsnetzbetreibern an einer möglichst weitgehenden Integration der Schweiz. Hierzu verhandelt sie privatrechtliche Verträge mit jedem einzelnen Netzbetreiber aus. Zum heutigen Zeitpunkt ist allerdings offen, ob der Abschluss dieser Verträge gelingen wird. Privatrechtliche Vereinbarungen unter Übertragungsnetzbetreibern stellen langfristig aber keinen adäquaten Ersatz für ein Stromabkommen dar. Ein vollständiger Marktzugang kann mittels privatrechtlicher Verträge nicht erreicht werden.
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