Kolumne von Markus FreitagOffener Typ = SP-Wähler?
Inwiefern die Persönlichkeit die politische Einstellung prägt, ist das aktuelle Thema unseres Kolumnisten.
Ein Skorpion wollte einen Fluss überqueren. Da traf er am Ufer einen Frosch und bat diesen: «Lieber Frosch, nimm mich bitte auf deinem Rücken mit zum anderen Ufer!» – «Ich bin doch nicht lebensmüde. Wenn wir dann auf dem Wasser sind und du mich stichst, dann muss ich sterben», entgegnete ihm der Frosch. «Wie könnt ich dich stechen, dann gehen wir ja beide unter und müssen beide sterben», antwortete der Skorpion. Der Frosch überlegte und sagte: «Ja, da hast du wohl recht. Steig auf meinen Rücken.» Kaum waren sie einige Meter geschwommen, spürte der Frosch einen stechenden Schmerz und schrie: «Jetzt hast du mich doch gestochen. Wir müssen beide sterben!» Der Skorpion entgegnete: «Ja, tut mir leid. Aber ich bin ein Skorpion und Skorpione stechen nun mal!»
Diese persische Fabel hält uns vor Augen, dass wir so sind, wie wir sind. So herausfordernd und bedrohlich die Lebensumstände auch sein mögen. Oder wie ist das bei Ihnen? Können Sie so einfach mir nichts, dir nichts aus der eigenen Haut heraus?
Fünf Wesenszüge machen gemäss der Persönlichkeitspsychologie unseren Charakter aus: Offenheit für Erfahrungen (Wie empfänglich sind Sie für Unbekanntes?), Gewissenhaftigkeit (Wie penibel sind Sie?), Extraversion (Wie leutselig sind Sie?), Verträglichkeit (Wie liebenswürdig und kollegial sind Sie?) und Neurotizismus (Wie empfindlich und zaghaft sind Sie?). Offene Personen streben immerzu nach neuen Erlebnissen. Sie neigen auch dazu, bestehende Normen und Wertvorstellungen kritisch zu hinterfragen. Menschen mit ausgeprägter Gewissenhaftigkeit tendieren zur Ordnungsliebe, zum Pflichtbewusstsein sowie zum Streben nach Konformität und dem Erhalt des Status quo. Extrovertierte werden als gesprächig, gesellig, kontaktfreudig und mitunter als durchsetzungsfähig sowie sozial dominant charakterisiert. Verträgliche Menschen gelten als vertrauensvoll, gutherzig, hilfs- und kompromissbereit. Neurotische Personen wiederum werden als ängstlich und leicht reizbar beschrieben.
Vom frühkindlichen Dasein über die erste Jugendliebe bis hin zur Wahl des Freundeskreises, des Jobs, der Haustiere und der Lebenspartner: Die Persönlichkeit durchzieht beinahe jede lebensweltliche Faser unseres Daseins.
Die Charakterlehre geht davon aus, dass diese fünf Wesensmerkmale zu einem gewissen Teil von Generation zu Generation weitergegeben werden, unsere direkten Vorfahren also unsere Vorlieben prägen. Diese vererbte Haut lässt sich dann auch nicht so einfach abstreifen und stellt grundlegende Weichen für unser Denken und Handeln. Vom frühkindlichen Dasein im Tragetuch oder im Babybjörn über die erste Jugendliebe bis hin zur Wahl des Freundeskreises, des Jobs, der Haustiere und der Lebenspartner: Die Persönlichkeit durchzieht beinahe jede lebensweltliche Faser unseres Daseins.
Aber wenn der Charakter unsere alltäglichen Handlungen und Haltungen entscheidend vorspurt, spricht nichts dagegen, dass die Persönlichkeit auch unsere Parteienwahl steuert. Im Oktober würden dann nach eigenen Auswertungen die Gewissenhaften unweigerlich der SVP oder vielleicht noch der FDP ihre Stimme geben. Letztere wären auch der Favorit für die Extrovertierten. Die Offenen fühlen sich zur SP und zu den Grünen hingezogen, mit Abstrichen auch zu den Grünliberalen, nicht aber zu bürgerlichen Parteien. Auch verträgliche Personen votieren hauptsächlich für die SP, mitunter noch für die Mitte, kaum aber für die SVP. Und die Neurotischen sehen sich ebenfalls am ehesten bei der SP und der Mitte, am wenigsten aber bei der FDP. Wären wir alle Skorpione, wären die Meinungen bereits gemacht. Prognosen, Spitzenkandidierende und Wahlkampagnen wären so überflüssig wie unnütz. Aber sind wir doch ehrlich: Das wäre ja zum Aus-der-Haut-Fahren!
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