Kolumne OmbudsmannWenn künstliche Intelligenz Meinungen benotet
Pointierte Kommentare in den Medien stossen oft auf Kritik. In den US-Zeitungen bahnt sich hier eine unheilvolle Entwicklung an.

«Bringt mir einen einarmigen Ökonomen», soll der amerikanische Präsident Harry S. Truman (1884–1972) gesagt haben: «All my economists say, ‹on the one hand ... on the other›.» Der Spruch wird, ähnlich, auch einem zornigen US-Verleger zugeschrieben – mit dem Unterschied, dass er sich weniger nett über die einarmigen Kolumnisten äusserte, die er sich wünschte: «Damit die Dreckskerle nicht immer schreiben können: einerseits, andererseits.»
Im Prinzip schätzt die Leserschaft der Tamedia klare Meinungsäusserungen – mindestens so lange, als sie mit ihnen einig geht. Falls nicht, kann es zu Beschwerden kommen, Leitartikel oder Kommentare seien einseitig, unfair oder inkompetent. Wobei nicht zu vergessen ist, dass Meinungen frei, Fakten aber heilig sind. Nur ist heute zunehmend von alternativen Fakten die Rede, und es wird nicht mehr nur über Meinungen, sondern vermehrt auch über Fakten gestritten.
Doch Meinungen bergen mehr Zunder, auch wenn nicht eindeutig zu belegen ist, ob sie, wie etwa im Fall von Wahlempfehlungen, das Publikum beeinflussen. Unheilvoll aber ist die jüngste Entwicklung in den USA, prononcierte Stellungnahmen zu aktuellen Themen entschärfen, relativieren oder gar verbieten zu wollen.
Medienbesitzer greifen durch
So schreibt Jeff Bezos, Besitzer der «Washington Post», dem Meinungsressort seiner Zeitung vor, neu nur noch Meinungen zu veröffentlichen, die «persönliche Freiheiten und freie Märkte» propagieren. Kritische Äusserungen sollen andere Quellen, am besten welche im Internet, veröffentlichen. Bezos’ Entscheid hat innert einer Woche mehr als 75’000 Leserinnen und Leser der «Post» dazu bewogen, ihr Digitalabo zu kündigen.
Etwas anderes hat Patrick Soon-Shiong, Eigentümer der «Los Angeles Times», initiiert. Nicht nur hat er das Meinungsressort des Blattes aufgefordert, bei Kommentaren zu Donald Trump «eine Pause zu machen». Er hat den Ressorts der «Times» auch einen «bias meter» verschrieben, ein mit künstlicher Intelligenz (KI) operierendes Instrument, das Artikel aufgrund ihrer politischen Stossrichtung von «links» oder «halb links» über «zentristisch» bis hin zu «halb rechts» oder «rechts» einstuft. Die Redaktion kann die Einschätzungen der KI nicht mehr überprüfen, was ihr zufolge das Vertrauen in die Zeitung schwächt.
So hat KI im Fall einer kritischen Kolumne über Präsident Trumps Ukraine-Politik eine Zusammenfassung «alternativer Standpunkte» generiert, unter anderen eine Einschätzung der Haltung des Weissen Hauses als «pragmatische Neuausrichtung der US-Aussenpolitik» gegenüber einem Europa, das Jahrzehnte lang kostenlos von Amerikas Sicherheitspolitik profitiert habe.
In einem Post auf X hat Soon-Shiong das neue «Insight»-Instrument als Sieg seiner Bemühungen bezeichnet, der Leserschaft ein «objektiveres» Meinungsspektrum zu bieten: «Jetzt können die Stimmen und Perspektiven aller Seiten gehört, gesehen und gelesen werden – keine Echokammer mehr.» Was die Zustimmung des Meinungsressorts betrifft, braucht sich der Verleger keine Sorgen zu machen: Viele der dort Beschäftigten haben bereits gekündigt. Sie reden von «vorauseilendem Gehorsam» gegenüber Trump.
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