Trauma-Expertin zu Gaza und Israel«Man denkt, eine Waffenruhe sei eine extreme Erleichterung für die Betroffenen»
Rahel Bachem erklärt, wie die freigelassenen Geiseln und Gefangenen zurück in ihr Leben finden und was es braucht, damit sich Menschen nach einem Krieg wieder vertrauen.
Seit über 15 Monaten lebt die Bevölkerung in Gaza in ständiger Todesangst. Über 46’000 Menschen sind nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums getötet worden, laut einer kürzlich veröffentlichten Studie könnten die Todeszahlen sogar um rund 40 Prozent höher liegen. Weit mehr als die Hälfte der Gebäude wurden zerstört oder beschädigt, rund 90 Prozent der Menschen vertrieben.
Auf der anderen Seite sind viele Israelis traumatisiert von dem Massaker der Hamas, bei dem am 7. Oktober 2023 rund 1200 Menschen getötet und rund 250 Menschen nach Gaza entführt wurden. Nach Angaben des israelischen Militärs wurden seit Beginn des Kriegs zudem rund 400 Soldatinnen und Soldaten getötet.
Nun herrscht seit letztem Sonntag eine Waffenruhe. Das längerfristige Ziel ist ein Frieden zwischen den Palästinenserinnen und Palästinensern und den Israelis.
Was es braucht, dass sich Menschen nach einem Krieg wieder annähern und warum ein Waffenstillstand nicht genug ist, erklärt Rahel Bachem. Sie ist Professorin für Psychopathologie und Psychotherapie an der Ostschweizer Fachhochschule in St. Gallen und hat von 2016 bis 2019 an der Universität Tel Aviv zu den Langzeitfolgen von Kriegstraumata und Kriegsgefangenschaft für Veteranen und Veteraninnen geforscht.
Frau Bachem, in der ersten Phase der Waffenruhe kamen bisher sieben israelische Geiseln frei, weitere sollen folgen. Was ist in den ersten Momenten nach der Rückkehr aus einer Geiselhaft wichtig?
Wichtig ist, dass die Menschen von einer Bezugsperson in Empfang genommen werden. So wie das in Israel jetzt gemacht wird. Und dann ist entscheidend, dass man keinen Druck auf die Personen ausübt, sie nicht mit Fragen überhäuft, um an Informationen zu gelangen. Denn man weiss nicht, was ihnen alles widerfahren ist und welche Bedürfnisse sie jetzt haben. Das hat man früher oft falsch gemacht.
Ist es nach einer so langen Zeit unter ständiger Todesangst möglich, wieder in das alte Leben zu finden?
Nein, ich denke nicht. Ins alte Leben kann man nicht zurückfinden – nur schon aus dem Grund, dass es in vielen Fällen nicht mehr existiert. Vor allem, wenn wir an die Leute aus den Kibbuzim denken. Ihre Häuser sind teilweise zerstört worden, viele nahe Menschen sind umgekommen. Hinzu kommt, dass man nach so einem Erlebnis nicht mehr dieselbe Person ist.
Im Gegenzug zu den Geiselentlassungen werden palästinensische Gefangene aus dem Gefängnis entlassen. Viele von ihnen sind sogenannte Administrativhäftlinge, die von den israelischen Streitkräften ohne Anklage festgenommen wurden. Was macht das mit Menschen?
Auch sie haben natürlich einen absoluten Kontrollverlust erlebt. Sie wurden aus ihrem Leben herausgerissen. Das hinterlässt auf jeden Fall Spuren, zum Beispiel Angststörungen oder posttraumatische Belastungsstörungen. Natürlich kommt es auch darauf an, was sie erlebt haben, bei der Verhaftung aber auch im Gefängnis.
Kann die menschliche Psyche nach einer so langen Zeit der Bedrohung einer Waffenruhe überhaupt trauen?
Das ist ein wichtiger Punkt. Man denkt, eine Waffenruhe sei eine extreme Erleichterung für die Betroffenen. Aber die Menschen in Israel und Gaza können sich trotz Waffenstillstand nicht entspannen. Es ist eine nervenaufreibende Situation zwischen Hoffnung und Angst.
Auf beiden Seiten ist den Menschen viel Leid widerfahren. Kann man solche Traumata verarbeiten?
Es kommt darauf an, was man unter verarbeiten versteht. Es gibt keine Therapie, die das Geschehene ungeschehen macht. Im allerbesten Fall bleiben Narben zurück. Man kann aber lernen, mit dem Erlebten umzugehen, sodass es nicht mehr den ganzen Alltag dominiert. Es geht weniger um ein Zurückkehren zu dem, was war, sondern viel eher darum, neue Wege zu finden, um weiterzuleben und trotz allem auch Glück zu erfahren.
Was braucht es dafür?
Als Erstes ein Kriegsende, dem die Menschen trauen können. Die aktuelle Waffenruhe ist das nicht. Bevor man mit der psychologischen Aufarbeitung beginnen kann, müssen die Leute aus dem akuten Überlebensmodus herauskommen. Sie brauchen Sicherheit, Nahrung, ein Dach über dem Kopf. Da denke ich jetzt speziell an die Bevölkerung in Gaza, bei der vieles davon überhaupt nicht erfüllt ist. Aber auch in Israel sind gewisse Kibbuzim zerstört, Menschen mussten umgesiedelt werden, und Raketenangriffe beeinträchtigen das Sicherheitsgefühl erheblich.
Und auf psychologischer Ebene?
Da braucht es Fachpersonen, die den Menschen helfen, das Erlebte in die eigene Lebensgeschichte zu integrieren und mit den aufkommenden Emotionen und Erinnerungen umzugehen. Die Traumatherapie ist da ein wichtiger Faktor.
Dass alle Menschen eine Einzeltherapie erhalten, ist aber kaum realistisch.
Nein, gerade in Gaza, wo so viele Leute betroffen sind, wird das ganz schwierig werden. Es braucht flexible Angebote. Hilfsorganisationen arbeiten oft mit Gruppentherapien, und es gibt diverse psychische Hilfsangebote, die auf Apps basieren, um möglichst viele Leute zu erreichen.
Was braucht es noch?
Eine Zukunftsperspektive. Menschen müssen ein würdiges Leben führen können, und es muss ihnen möglich sein, hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken, um sich von Hass und extremen Ideologien zu lösen.
Was machen Kriegstraumata mit Menschen?
Zum Beispiel erleben viele Betroffene plötzlich aufkommende Erinnerungen oder eine erhöhte Bedrohungswahrnehmung. Einige plagen auch Schuldgefühle, oder sie haben Mühe, anderen Menschen zu vertrauen, was sich auf ihre Beziehungen auswirkt. Das alles können Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung sein. Auch Depressionen und Angststörungen sind häufige Folgen.
Gibt es Zahlen dazu, wie gross der Anteil an Betroffenen ist?
Die Zahlen gehen je nach Krieg weit auseinander. Es kommt sehr stark darauf an, wie sehr Menschen dem Geschehen ausgesetzt waren. Aber auch die Motive des Kriegs und die Geschichte des Konflikts spielen eine Rolle. Und natürlich auch die eigene Position: Ist man Zivilist gewesen oder Soldat? Hat man den Krieg für nötig befunden oder nicht?
Wieso erweisen sich gewisse Menschen als resilienter als andere?
Es ist nicht so, dass Resilienz ein Charakterzug ist, den gewisse Leute haben und andere nicht. Heute gehen wir davon aus, dass das ein dynamisches Konstrukt ist, das auf biografischen Erfahrungen, aber auch auf Ressourcen im Umfeld basiert. Es kommt darauf an, was einer Person passiert ist, ob sie zum Beispiel ein Kind verloren hat, und auch darauf, wie sie finanziell gestellt ist. Eine Person mit einem Konto im Ausland hat natürlich bessere Perspektiven, wenn sie einen Krieg überlebt.
Sowohl unter den palästinensischen Gefangenen als auch unter den israelischen Geiseln gibt es Kinder. Verarbeiten diese Traumata anders?
Es gibt in der Traumatherapie spezifische Ansätze für die Arbeit mit Kindern. Sie zeigen oft andere Symptome als Erwachsene, zum Beispiel Bettnässen oder den Verlust von Sprachfähigkeiten. Zudem können Auffälligkeiten im Bindungsverhalten auftreten. In der Grundsache sind die Dynamiken aber ähnlich wie bei Erwachsenen.
Das längerfristige Ziel der Waffenruhe ist ein Frieden zwischen den Palästinenserinnen und Palästinensern und den Israelis. Was braucht es, dass sich Menschen nach einem so langen Krieg annähern oder sogar vertrauen können?
Es braucht vor allem eine politische Situation, in der sich die Menschen genug geschützt fühlen, um sich gegenüber der anderen Gruppe wieder zu öffnen. Und dann wäre ein individueller Kontakt nötig, sodass beide Seiten die andere wieder als Menschen wahrnehmen und nicht als Monster. Gerade für Kinder und Jugendliche müsste man Begegnungsräume schaffen, damit sie lernen, einander zu verstehen, sich als Individuen zu sehen und nicht als Kollektivfeinde.
Wie kann eine Gesellschaft verhindern, dass ihre Traumata über Generationen weitergegeben werden?
Das ist schwierig. Ich glaube, es wird immer etwas weitergegeben. Was hilft, ist die Auseinandersetzung mit dem Erlebten zu Friedenszeiten. Die Gesellschaft muss ein Narrativ finden, für das, was passiert ist, vielleicht auch eine Art Verständnis dafür, wie es zum Krieg gekommen ist. Sie muss sich als Kollektiv fragen: Was gehört zu damals im Krieg und was gehört zu jetzt in den Frieden? Was wollen wir unseren Kindern vermitteln?
Spielen da auch die Medien eine Rolle?
Ja, die Medien spielen immer eine grosse Rolle dabei, wie ein Krieg erlebt wird. Vieles, was Menschen über einen Krieg wissen, wissen sie nur aus den Medien. Medien können extreme Meinungen rezyklieren und verfestigen. In der Psychologie nennen wir das den Mere-Exposure-Effekt. Je mehr man etwas hört, desto mehr beginnt man, es zu glauben. Darum denke ich, die Verantwortung der Medien liegt darin, differenzierte Positionen und verschiedene Perspektiven zu beleuchten, sodass die Menschen aus den Extremen wieder herausfinden.
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