Knappe Mehrheit: Von der Leyen ist neue EU-Kommissionspräsidentin
Die Deutsche wird die Nachfolge von Juncker antreten, als erste Frau in dieser Position. Das absolute Mehr übertraf sie äusserst knapp.
Ursula von der Leyen ist neue Präsidentin der EU-Kommission: Am Dienstagabend wurde sie im EU-Parlament äusserst knapp mit 383 Stimmen gewählt - die nötige absolute Mehrheit lag bei 374, wie Parlamentspräsident David Sassoli mitteilte.
733 gaben ihre Stimme ab, 327 Abgeordnete stimmten gegen Ursula von der Leyen, 22 enthielten sich, jemand legte leer ein.
Viele Gegenstimmen und ein knapper Ausgang sind bei der Wahl der Kommissionspräsidenten keine Seltenheit. Der folgende Tweet zeigt, dass ihr Vorgänger Jean-Claude Juncker zwar mit etwas mehr Rückhalt ins EU-Kommissionspräsidium gewählt wurde, zehn Jahre zuvor erhielt aber auch José Manuel Barroso nur wenige Stimmen mehr als erforderlich:
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Von der Leyen erhielt nun etwas mehr als 52 Prozent der Stimmen, bei Barroso waren es vor zehn Jahren 53 Prozent. Das schlechteste Ergebnis der vorhergehenden fünf Wahlen erzielte 1994 Jacques Santer,
«Ich fühle mich so geehrt»
Die 60-jährige deutsche Politikerin kann voraussichtlich am 1. November die Nachfolge des Luxemburgers Jean-Claude Juncker antreten - als erste Frau in dieser Position. Erstmals seit 60 Jahren erobert zudem wieder jemand aus Deutschland das Amt.
Von der Leyen bedankte sich in einer ersten Reaktion für das Vertrauen. «Ich fühle mich so geehrt», sagte die scheidende Verteidigungsministerin. «Das Vertrauen, das Sie in mich gesetzt haben, ist das Vertrauen, das sie in Europa gesetzt haben!»
Sie kündigte eine enge Zusammenarbeit mit dem Europaparlament an. «In der Demokratie ist die Mehrheit die Mehrheit», sagte von der Leyen. «Vor zwei Wochen habe ich noch nicht geglaubt, dass es mir so glücklich gelingen wird.»
Sie habe deshalb die Fraktionen überzeugen müssen, um eine Mehrheit zu erreichen. Dies seien «auf jeden Fall die intensivsten zwei Wochen in meinem politischen Leben gewesen».
Keine Spitzenkandidatin
Vor der Abstimmung im Strassburger EU-Parlament hatte es sehr viel Unmut gegeben, weil von der Leyen keine Spitzenkandidatin zur Europawahl war. Die EU-Staats- und Regierungschefs hatten die Spitzenkandidaten Manfred Weber von der Europäischen Volkspartei (EVP) und Frans Timmermans von den Sozialdemokraten übergangen und stattdessen von der Leyen als Überraschungskandidatin präsentiert.
Die Grünen und die Linken hatten deshalb - und auch wegen inhaltlicher Differenzen - ein Nein angekündigt. Auch die rechte Fraktion «Identität und Demokratie» (ID) lehnte von der Leyen ab.
Doch schliesslich signalisierten die Fraktion ihrer eigenen Parteienfamilie - die Europäischen Volkspartei (EVP) -, die Liberalen und die Mehrheit der Sozialdemokraten bereits vor der geheimen Abstimmung Unterstützung. Quergestellt hatten sich die deutschen Sozialdemokraten und einige kleinere Ländergruppen in der Fraktion. Sie lehnte die Politikerin ab.
Die rechtsnationale EKR, die von der Leyen ursprünglich ebenfalls Stimmen in Aussicht gestellt hatten, konnte sich letztlich nicht einigen und gab die Abstimmung frei; auch von dort könnten einige Stimmen gekommen sein.
b>Für fünf Jahre gewählt
Mit ihrer Wahl haben die Parteien von der Leyen einen Vertrauensvorschuss gegeben - die befürchtete Selbstblockade der Europäischen Union ist abgewendet und wohl auch grösserer Streit in der grossen Koalition in Berlin. Jetzt muss die konservative Politikerin liefern: «Ein Europa, das mehr will», hat sie versprochen.
Als Kommissionspräsidentin kann von der Leyen in den nächsten fünf Jahren politische Linien und Prioritäten mitbestimmen. Sie wird Chefin von mehr als 30'000 Mitarbeitern in der wichtigen Brüsseler Behörde.
In ihrer Bewerbungsrede am Vormittag hatte von der Leyen Einheit und Zusammenhalt beschworen, damit Europa sich in der Welt behaupten könne. Sie versprach ein klimaneutrales Europas bis 2050 und eine Senkung der Treibhausgasemission bis um 55 Prozent bis 2030. Sie betonte, sie werde sich für vollständige Gleichberechtigung von Männern und Frauen einsetzen.
Brexit-Verlängerung wenn nötig
Gemäss von der Leyen sollen zudem grosse Internetkonzerne stärker besteuert werden. Zudem sagte sie vollen Einsatz der Kommission für die Rechtsstaatlichkeit zu.
Ausserdem schloss sie eine weitere Verschiebung des Brexit nicht aus - was Protestrufe der Brexit-Partei im Parlament auslöste. Eine Verlängerung der Austrittsfrist für Grossbritannien wäre möglich, wenn es gute Gründe gäbe, sagte sie. Die Frist läuft derzeit bis zum 31. Oktober.
Ihre politischen Leitlinien legte von der Leyen in einem mehr als 20-seitigen Dokument dar, das am Dienstag zur Parlamentsabstimmung veröffentlicht wurde. Es trägt die Überschrift «Eine Union, die mehr erreichen will - Meine Agenda für Europa».
Merkel lobt von der Leyen
Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel würdigte die neue EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen als «überzeugte und überzeugende Europäerin». «Sie wird nun mit grossem Elan die Herausforderungen angehen, vor denen wir als Europäische Union stehen. Das hat sie in ihrer heutigen Rede im Europäischen Parlament sehr deutlich gemacht», sagte Merkel am Dienstag in Berlin.
«Auch wenn ich heute eine langjährige Ministerin verliere, gewinne ich eine neue Partnerin in Brüssel. Daher freue ich mich auf eine gute Zusammenarbeit.» Glückwünsche zur Wahl als neue EU-Kommissionspräsidentin kommen auch aus der Schweiz. Herzliche Gratulation und «viel Erfolg in dieser wichtigen und anspruchsvollen Funktion» wünschte die Schweizer Verteidigungsministerin Viola Amherd ihrer ehemaligen Amtskollegin via Kurznachrichtendienst Twitter.
In Brüssel geboren
Von der Leyen spricht fliessend Englisch und Französisch. Sie ist in Brüssel geboren und dort auch in den ersten Jahren zur Schule gegangen. «Ich bin Europäerin gewesen, bevor ich später gelernt habe, dass ich Deutsche bin und Niedersächsin», sagt sie. «Und deshalb gibt es für mich nur eines: Europa einen und stärken.»
Ihre politische Karriere ging die Mutter von sieben Kindern zielstrebig an. Sie ist seit 1990 CDU-Mitglied. 2003 wurde sie in Niedersachsen Ministerin für Frauen, Familie und Gesundheit und gehört seit 2004 dem Präsidium der CDU an. 2005 wurde sie Bundesfamilienministerin. Dort setzte sie das Elterngeld durch. 2009 übernahm sie das Bundesarbeitsministerium.
Von der Leyen galt zwischenzeitlich als mögliche Nachfolgerin von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Doch ihr fehlt eine wirkliche Hausmacht in der Partei. Und einigen in der CDU war ihr Ehrgeiz immer suspekt.
Negativschlagzeilen
Zuletzt schien ihr Stern zu sinken. Turbulenzen gab es um Plagiatsvorwürfe um ihre Doktorarbeit. Die Medizinische Hochschule Hannover entschied aber 2016, dass sie trotz «klarer Mängel» beim Zitieren den Titel behalten darf.
Unglücklich agierte von der Leyen in der Affäre um rechtsextreme Tendenzen in der Bundeswehr. Nachdem 2017 aufflog, dass sich ein Oberleutnant monatelang als syrischer Flüchtling ausgegeben hatte und offenbar einen rechtsradikal motivierten Anschlag plante, warf sie der Truppe in einer ersten Reaktion ein «Haltungsproblem» vor. Dies wurde ihr als Pauschalkritik in der Bundeswehr übel genommen.
Dann geriet die Ministerin mit der Affäre um die Kostenexplosion bei der Sanierung des Segelschulschiffs «Gorch Fock» in die Schlagzeilen. Sie brachte von der Leyen den Vorwurf fehlender Kontrolle ein und aus der Opposition Rücktrittsforderungen. Auch wegen Rüstungsprojekten, vielfältiger Ausrüstungsmängel bei der Bundeswehr und einer Affäre um externe Berater geriet ihr Ministerium immer wieder in die Kritik.
Dass sich von der Leyen trotz dieser Turbulenzen im Amt hielt, zeigt ihre politische Zähigkeit. Die hat sich im Poker um die Juncker-Nachfolge nun erneut ausgezahlt.
afp/sda/anf
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