Kolumne «Fast verliebt»Wie man ein kleineres Arschloch mit weniger Vorurteilen wird
Sie ist zu dick für ihn! Er ist zu alt für sie! Wie schnell wir Menschen, die ein ungleiches oder normabweichendes Paar bilden, in die fiesesten Schubladen stecken — und wie wir davon wegkommen.
Ich bilde mir etwas darauf ein, ein netter Mensch zu sein. Ich warte nicht ab, bis mir Freundlichkeit zuteilwird: Mutig sende ich sie aus. Auch an die grummeligen Gemüter! Und wenn diese — nach einer flüchtigen Transaktion oder nach jahrelanger Freundschaft — ihr eigenes Freundlichkeitsniveau anheben, verbuche ich das stolz als persönlichen Beitrag zur einzigen Form von Klimaerwärmung, die ich begrüsse.
Umso erschrockener war ich, als ich vor kurzem entdeckte: Auch in mir versteckt sich ein kleines Arschloch mit Vorurteilen. Und es versteckt sich nicht mal gut.
So schnell zerreisst die dünne Haut aus Freundlichkeit
Es muss nur eine sehr junge, hübsche Frau am Arm eines sehr alten, nach Einfluss und Geld riechenden Mannes vorbeilaufen. Dann zerreisst meine dünne Haut aus Freundlichkeit und Respekt für alle, und etwas in mir schreit: «Pfui! Wieder so ein alter Sack, der sich an einem kleinen Mädchen vergreift.» Oder: «Wieder so ein Naivchen mit Vaterproblemen und Geldsorgen, das einer zweifachen Mutter den Ehemann ausspannt.» Mit der Empörung über Age-Gap-Beziehungen gewinnt man ja in den meisten Frauenrunden Mehrheiten. Solche Männer sind nichts weiter als Egozentriker in der Lebensmittekrise: glasklar!
Aber wie oft ist eigentlich in unserem eigenen Leben irgendetwas glasklar?
Wieso hat es eine dritte Staffel der Netflix-Serie «Bridgerton» gebraucht, um einer breiten Masse von Menschen glaubhaft zu vermitteln, dass eine übergewichtige Frau nicht nur klug, sondern auch sexy sein kann und dass sich ein normschöner Mann in sie verlieben kann? Auch ich musste die Staffel erst sehen, ums zu glauben. Dabei habe ich seit Jahren in meinem Umfeld ein Paar, das aus einer übergewichtigen Frau und einem grossen, schlanken Mann besteht, der ihr restlos verfallen ist. Zwei glückliche Kinder sind ihr Zeugnis. Leider sind Vorurteile oft stärker als die Realität, die sie widerlegt.
In der Liebe halten sich plumpe Narrative oft mit besonderer Hartnäckigkeit. Neulich stellte mir ein kluger Freund seine Neue vor: eine 25-jährige Barbie mit Plastiknägeln. So eine, dachte ich — und wusste gleich Bescheid. Aber dann unterhielt ich mich mit ihr. Sie wirkte nicht nur klug, nett und weltgewandt, sie war auch schon Juniorprofessorin.
Ist es unser Job, die Spreu vom Weizen zu trennen?
Natürlich steckt in Klischees oft ein Funken Wahrheit. Aber selbst wenn 80 Prozent der in irgendeiner Form «verdächtigen» Paare diesen Klischees entsprechen — was ist mit den anderen 20 Prozent, die es vielleicht nicht tun? Mit den Liebenden, den Seelenverwandten? Ist es unser Job, die Spreu vom Weizen zu trennen? Können wir das überhaupt, von aussen?
Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht, aber ich möchte nicht zu den Bösen zählen, die sich wahrer Liebe in den Weg stellen. Niemals! Weshalb ich in Zukunft lieber zweimal zögere, bevor ich mir über ein ungleiches Paar das Maul zerreisse.
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