Klimawandel in EuropaIn diesen Ländern drohen am meisten Hitzetote
Als Folge von Hitze könnten in Europa bis zu 2,3 Millionen Menschen mehr sterben als bisher. In Westeuropa soll die Schweiz besonders stark betroffen sein – doch die Unsicherheit ist gross.
- Kältere Temperaturen verursachen derzeit mehr Todesfälle als Hitze.
- Aufgrund der Erderwärmung werden die hitzebedingten Todesfälle künftig dominieren, dies zeigt eine internationale Studie.
- Ohne Klimaschutz drohen bis zu 2,3 Millionen zusätzliche temperaturbedingte Todesopfer in Europas Städten.
- 70 Prozent dieser Todesfälle könnten durch ehrgeizige Klimaschutzmassnahmen vermieden werden.
Heute sterben in Europa ungefähr zehnmal mehr Menschen an den Folgen von Kälte als durch Hitze. Das hat unter anderem damit zu tun, dass sich virale und bakterielle Infektionen im Winter schneller ausbreiten. Und weil auch Kälte das Herz-Kreislauf-System belastet, vor allem bei älteren Personen.
Kommt die Erderwärmung in Anbetracht der weit höheren Anzahl an Kältetoten nicht wie gerufen? Schliesslich könnte man erwarten, dass es in einem wärmeren Klima zwar etwas mehr Todesfälle wegen Hitze gibt, dafür aber umso weniger kältebedingte Tote.
Eine in der Fachzeitschrift «Nature Medicine» publizierte Studie hat nun das Verhältnis von kälte- zu wärmebedingter Sterberate in Europa für drei Klimaszenarien und drei unterschiedlich stark ausgeprägte Anpassungsmassnahmen an die Hitze untersucht, mit denen das hitzebedingte Sterberisiko um 10, 50 beziehungsweise 90 Prozent abgesenkt wird.
Demnach würde es in nordeuropäischen Ländern wie Finnland und Norwegen im Laufe des Jahrhunderts tatsächlich etwas weniger temperaturbedingte Todesfälle geben. Im grossen Rest Europas werden die hitzebedingten Todesfälle aber schneller und stärker zunehmen, als die durch Kälte verursachten Todesfälle sinken.
Im Szenario mit dem stärksten Temperaturanstieg – plus circa 3,6 Grad Celsius bis zum Ende des Jahrhunderts – und ohne Anpassungsmassnahmen ist der Effekt besonders deutlich: Auf ganz Europa bezogen schätzen die Autorinnen und Autoren der Studie, dass die temperaturbedingte Sterblichkeitsrate dann um rund 50 Prozent gegenüber den durchschnittlichen Werten vor 2015 ansteigen könnte – allerdings nur, wenn keinerlei Anpassungsmassnahmen vollzogen werden.
Im Zeitraum von 2015 und 2099 würde sich das in den städtischen Gebieten Europas auf insgesamt 0,3 bis 4,8 Millionen zusätzliche durch den Klimawandel bedingte Todesfälle summieren – der wahrscheinlichste Wert liegt bei rund 2,3 Millionen.
Etwa 70 Prozent der Todesfälle liessen sich vermeiden
Etwa 70 Prozent der zusätzlichen Todesfälle liessen sich durch engagierten Klimaschutz vermeiden, zeigt die Studie: Bleibt die Erderwärmung im Rahmen des Zwei-Grad-Ziels, wäre im Laufe des Jahrhunderts in den urbanen Gebieten Europas nicht mit rund 2,3 Millionen, sondern nur mit rund 600’000 zusätzlichen Todesfällen zu rechnen.
«Die aktuelle Studie verwendete etablierte Methoden zur Abschätzung der hitze- und kältebedingten Sterblichkeit inklusive Unsicherheitsbetrachtungen», sagt Martin Röösli, Leiter des Bereichs Umweltexposition und Gesundheit am Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Institut Basel (Swiss TPH). «Die grosse geografische Abdeckung ist eine Stärke der Studie.»
Die Hauptresultate stünden im Einklang mit bisherigen ähnlichen Studien. Ebenfalls unbestritten sei, dass mit zunehmender Klimaerwärmung die hitzebedingte Sterblichkeit zunehme und die kältebedingte Sterblichkeit abnehme und dass mit Minderungs- und Anpassungsmassnahmen diese beiden Effekte reduziert werden könnten.
Solche Abschätzungen haben laut Röösli aber inhärente Unsicherheiten, was sich in weiten Unsicherheitsbereichen äussert. «Die Hauptresultate der Studie beruhen auf der Annahme, dass der historische Zusammenhang zwischen Hitze und Sterblichkeit in den Jahren 2000 bis 2014 in die Zukunft extrapoliert werden kann», sagt Röösli. «Wie die Autoren diskutieren, zeigen verschieden Studien, zum Beispiel auch aus der Schweiz, dass sich die Bevölkerung an höhere Temperaturen gewöhnt und die Sterblichkeit bei heissem Wetter über die Zeit tendenziell abnimmt.» Das liege an Verhaltens- und Infrastrukturanpassungen – zum Beispiel Klimaanlagen – sowie eventuell auch an physiologischen Anpassungen.
«Aus meiner Sicht überschätzten die Hauptresultate der Studie in den Szenarien ohne Anpassungsmassnahmen mit grosser Wahrscheinlichkeit die zukünftige hitzebedingte Sterblichkeit etwas», sagt Röösli.
Die Resultate der Studie folgen aus der Analyse von Temperatur- und Sterblichkeitsdaten in 854 städtischen Regionen in Europa. Anhand der Daten haben die Forschenden um Pierre Masselot von der London School of Hygiene & Tropical Medicine die temperaturbedingten Todesfälle für den Zeitraum von 2015 bis 2099 modelliert. Das taten sie für mehrere Szenarien bezüglich Klimawandel, demografischer Entwicklung und Anpassung an die künftige Hitze.
Italien fast dreimal so stark betroffen wie die Schweiz
Verschiedene Länder wären demnach sehr unterschiedlich stark betroffen. Im Szenario mit dem stärksten Temperaturanstieg von rund 3,6 Grad würde es zum Beispiel in Italien gegen Ende des Jahrhunderts rund 50 weniger kältebedingte Todesfälle pro Jahr und pro 100’000 Einwohnerinnen und Einwohner geben, dafür aber circa 190 zusätzliche hitzebedingte Todesfälle. Insgesamt wäre also mit rund 140 zusätzlichen Todesfällen pro 100’000 Personen und Jahr zu rechnen.
In Westeuropa nimmt die Schweiz gemeinsam mit Österreich gemäss der Studie den Spitzenplatz ein. In diesen Ländern nimmt die temperaturbedingte Sterblichkeit unter den sieben untersuchten westeuropäischen Ländern bis Ende des Jahrhunderts am stärksten zu: beim Szenario ohne weiteren Klimaschutz und ohne Anpassung in der Schweiz um 54 und in Österreich um 64 zusätzliche klimawandelbedingte Todesfälle pro 100’000 Personen und Jahr.
Auf eine künftige Schweizer Bevölkerung von neun Millionen hochgerechnet wären das ohne weiteren Klimaschutz und ohne Anpassung rund 4900 Klimatote pro Jahr – mehr als 10-mal so viel, wie heute durchschnittlich pro Jahr an Grippe sterben. Klimaschutz und Anpassungsmassnahmen würden diese Werte deutlich senken.
Unplausibles Mass an Anpassung nötig
Die Massnahmen zur Anpassung müssten aber erheblich sein, wie es in der Studie heisst: «Unsere Ergebnisse zeigen, dass ohne ehrgeizige Klimaschutzmassnahmen ein erhebliches und eher unplausibles Mass an Anpassung an die Hitze notwendig ist, um einen Anstieg der temperaturbedingten Sterblichkeit zu verhindern.»
Ohne Klimaschutz würde demnach selbst eine Halbierung des hitzebedingten Sterberisikos durch Anpassungsmassnahmen nicht ausreichen, um die steigende Hitzebelastung durch den Klimawandel auszugleichen. Das gilt insbesondere im Mittelmeerraum, in Mitteleuropa und auf dem Balkan.
«Unsere Ergebnisse unterstreichen die dringende Notwendigkeit, sowohl die Eindämmung des Klimawandels als auch die Anpassung an die zunehmende Hitze energisch voranzutreiben», sagt Studienautor Masselot. «Besonders kritisch ist dies im Mittelmeerraum, wo die Folgen fatal sein könnten, wenn nichts unternommen wird. Wenn wir jedoch einen nachhaltigeren Weg einschlagen, könnten wir Millionen von Todesfällen bis zum Ende des Jahrhunderts vermeiden.»
Fehler gefunden?Jetzt melden.