Streit nach Klimaseniorinnen-UrteilWar der Vertreter der Schweiz befangen?
Laut NZZ hat der verantwortliche Jurist des Bundes womöglich nicht im Interesse des Landes gehandelt. Das Bundesamt für Justiz widerspricht vehement. Ein Professor hingegen sieht tatsächlich ein Problem.
Auch eineinhalb Wochen nach dem Urteil zu den Klimaseniorinnen gehen die Wogen hoch. Am Samstag stellte die NZZ schwere Vorwürfe gegen Alain Chablais in den Raum, den Vertreter des Bundes am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Dieser sei möglicherweise befangen gewesen und habe sich nicht voll für die Position der Schweiz eingesetzt.
Der Grund: Kurz nach Urteilsverkündung wurde bekannt, dass Chablais die Seiten wechselt und bald schon selber Richter am EGMR sein wird – als Vertreter Liechtensteins. «Wie kann ein Spitzenbeamter die Interessen der angeklagten Schweiz vertreten, wenn er geistig womöglich längst auf der Seite seines künftigen Arbeitgebers, eines internationalen Gerichts, ist?», fragte die NZZ.
Er habe vom Urteil geschwärmt
Um die Zweifel zu begründen, strich die Zeitung einige Aussagen von Chablais hervor. «Kaum war die Tinte der schriftlichen Urteilsbegründung trocken, schwärmte Chablais plötzlich von einem ‹historischen Urteil›», so die NZZ. Tatsächlich tönte er in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur SDA wie ein Vertreter der Gegenseite: Es sei ein wichtiges, sorgfältig detailliertes Urteil, das die Schweiz verpflichte, Massnahmen zu ergreifen, sagte Chablais. Der Ministerrat des Europarats werde überwachen, was sie Schweiz unternehme, um ihre Versäumnisse zu beheben.
Das Bundesamt für Justiz widerspricht den Vorwürfen vehement. Nicht Alain Chablais entscheide über die Haltung der Schweiz in einem Verfahren vor dem EGMR – massgeblich sei das angegriffene Bundesgerichtsurteil. Ausserdem sei eine Befangenheit allein schon vom zeitlichen Ablauf her ausgeschlossen. Die Schweiz habe ihre Position dem Gerichtshof bereits am 5. Dezember 2022 schriftlich zugestellt, Liechtenstein hat die Richterstelle aber erst am 22. März 2023 offiziell ausgeschrieben. Die öffentliche Verhandlung in Strassburg fand allerdings am 29. März 2023 statt, also genau eine Woche nach der Ausschreibung. «Das spielt keine Rolle», sagt Michael Schöll, Direktor des Bundesamts für Justiz. Bei der öffentlichen Anhörung habe Chablais die Schweizer Politik «klar und deutlich» vertreten, wie zuvor schon in der schriftlichen Stellungnahme.
Wusste er von Chablais Bewerbung? Er habe ihn über den Stand stets informiert, sagt Schöll. Schon vor der Verhandlung? «Den genauen Zeitpunkt kann ich nicht nennen, aber sicher bevor er sich Ende April 2023 offiziell beworben hat.»
Bereits der Anschein der Befangenheit reiche aus
Strafrechtsprofessor Marcel Niggli überzeugt diese Argumentation nicht. «Es zählt nicht, ob jemand tatsächlich befangen ist, sondern ob der Anschein von Befangenheit entstehen kann», sagt er. «Das Bundesamt für Justiz tut nun so, als wäre Chablais bei der Anhörung in Strassburg nur noch eine Marionette gewesen, die etwas Vorgefasstes vorliest.» Selbst wenn das stimmte, wäre dies für ihn bedenklich. «Dann hätten wir eine ziemlich miese Verteidigung.» Deshalb sei für ihn klar: «Chablais hätte in den Ausstand treten müssen.»
Für Michael Schöll ist der Vorwurf des Interessenkonflikts unverständlich. «Herr Chablais arbeitet ja nicht plötzlich für die Klimaseniorinnen, sondern wechselt ans Gericht», sagt er. Dieses spiele bei der Wahl der neuen Richter keine Rolle. «Die Neuen werden von der parlamentarischen Versammlung im Europarat gewählt, das ist ein vom Gerichtshof unabhängiges Gremium.»
Es sei im Übrigen nichts Aussergewöhnliches, dass ein Anwalt Richter werde. «Die Frage der Befangenheit stellt sich erst, sobald ein Richter sein neues Amt angetreten hat», sagt er. «Wird ein Fall verhandelt, den der Richter zuvor als Vertreter des Landes behandelt hatte, muss er gemäss Reglement in den Ausstand treten.»
«Eine Frage des institutionellen Anstands»
Marcel Niggli beurteilt auch dies anders. «Nicht nur die Richter müssen den Anschein der Unbefangenheit wahren, sondern alle Rechtsvertreter», sagt er. «Ein Verteidiger, der weiss, dass auf der anderen Seite seine zukünftigen Kollegen sitzen, redet womöglich anders.» Es gehe um die Wirkung, die nach aussen entstehe. «Für mich macht es in diesem Fall den Eindruck, als sei es den Verantwortlichen egal gewesen, wie die Schweizer Justiz in der Öffentlichkeit dasteht.»
Michael Schöll sagt: «Im Internet ist eine Aufnahme der Verhandlung abrufbar, jeder kann nachschauen, dass Herr Chablais die Interessen der Schweiz mit Nachdruck und den besten Argumenten vertreten hat.» Und zur Kommunikation Chablais’: «Zu sagen, dass sich ein Staat an das Urteil des Gerichtshofs zu halten hat, ist eine Frage des institutionellen Anstands, auch wenn man über das Urteil nicht glücklich ist.»
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