Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Aus dem Bundesgericht
Klimaprozesse: Zürcher Richter darf sich nicht wehren

Aktivistinnen und Aktivisten von «Extinction Rebellion» blockierten am 4. Oktober 2021 die Uraniastrasse in der Zürcher Innenstadt. Zwei verhaftete Frauen durften sich nicht vor Einzelrichter Roger Harris verteidigen.

Man erinnert sich: Der Zürcher Einzelrichter Roger Harris hatte im Frühjahr 2022 Klimademonstranten, welche Stadtzürcher Strassen blockierten, unter anderem wegen Nötigung schuldig gesprochen, im Herbst dann aber drei weitere Aktivisten freigesprochen.

Noch bevor er über zwei weitere wegen der gleichen Delikte angeklagte Beschuldigte ein Urteil fällen konnte, verlangte die Staatsanwaltschaft seine Abberufung. Der Richter habe bei einem Freispruch mit seinen Äusserungen den Eindruck erweckt, «auch bei zukünftigen Verfahren gleich zu urteilen, ohne den einzelnen Fall im Detail in sachlicher und rechtlicher Hinsicht unbefangen zu prüfen». Die III. Strafkammer des Obergerichts hielt das Misstrauen in die Unparteilichkeit des Richters für gerechtfertigt und versetzte Harris in den Ausstand.

In der beruflichen Ehre verletzt

Gegen diesen Beschluss wehrte sich Harris vor Bundesgericht. Der Entscheid sei aufzuheben, und es sei festzustellen, dass er nicht befangen sei. Die Feststellungen des Obergerichts verletzten ihn in seiner beruflichen Ehre und damit in seiner Persönlichkeit. Die an ihm geäusserte Kritik könne sich negativ auf seine Mitarbeiterbeurteilung, die Lohnentwicklung und seine Beförderungschancen auswirken.

Doch das Bundesgericht trat in seinem kurzen Urteil auf die Beschwerde gar nicht ein, wie aus dem am Freitag veröffentlichen Urteil hervorgeht. Zu einer Beschwerde in Strafsachen sei nur die beschuldigte Person oder die Staatsanwaltschaft berechtigt. Von Gerichtspersonen sei nicht die Rede. Der Entscheid betreffe ihn nicht als Privatperson, sondern in seiner amtlichen Eigenschaft als Richter.

Das Bundesgericht bestätigte sein eigenes über 40 Jahre altes Urteil, gemäss dem ein Richter ein gegen ihn erfolgreich gerichtetes Ablehnungsbegehren nicht anfechten darf.

Klimaaktivistinnen setzen sich durch

Das Bundesgericht hat die Gutheissung des Ausstandsbegehrens trotzdem aufgehoben und die Sache «zur neuen Durchführung des Ausstandsverfahrens» an die III. Strafkammer des Obergerichts zurückgewiesen. Grund dafür ist die Beschwerde von zwei Klimaaktivistinnen, denen ursprünglich mitgeteilt worden war, dass Roger Harris als Richter über ihre Einsprache gegen den Strafbefehl urteilen werde.

Die beiden Frauen rügten, sie seien zwar Partei des Strafverfahrens, in das Ausstandsverfahren aber nicht einbezogen worden. Damit sei ihr Anspruch auf rechtliches Gehör, was ein faires Verfahren gewährleisten soll, verletzt worden. Die Staatsanwaltschaft meinte etwas maliziös, die beiden Frauen hätten keinen Anspruch darauf, «sich einen ihnen genehmen Bezirksrichter oder eine ihnen genehme Bezirksrichterin auszusuchen».

Rechtliches Gehör verletzt

Darum gehe es nicht, entgegnete das Bundesgericht. Eine beschuldigte Person habe das Recht, von einem unabhängigen und unparteiischen Gericht in einem fairen Verfahren öffentlich beurteilt zu werden. Dieser «Anspruch auf ein gesetzliches Gericht» sei beeinträchtigt, wenn ein Ausstandsgesuch gegen eine andere Person gutgeheissen werde. Deshalb sei der beschuldigten Person vorgängig das rechtliche Gehör zu gewähren. Mit anderen Worten: Die beiden Frauen müssen am Ausstandsverfahren als Partei beteiligt werden.

Offen ist, ob sich durch die Beteiligung der beiden Frauen am Ausgang des Ausstandsverfahrens gegen Roger Harris etwas ändern wird. Die Staatsanwaltschaft hatte den Befangenheitsantrag lediglich gestützt auf einen Presseartikel gestellt. Das Obergericht verzichtete darauf, die Tonbandaufzeichnung von Harris’ Äusserungen im Wortlaut anzuhören.

Pressebericht sei nicht neutral gewesen

Laut dem Pressebericht soll Harris unter anderem gesagt haben, «er sei nicht mehr bereit, friedliche Demonstranten schuldig zu sprechen und solche staatlichen Strafaktionen zu unterstützen. Jeder habe das Recht, gewaltfrei zu demonstrieren.» Zu den Kindern der damals beschuldigten Frau habe er gesagt: «Jungs, ihr könnt stolz sein auf eure Mutter.»

Gegenüber dem Obergericht machte Harris geltend, der Pressebericht sei nicht neutral und gebe das Gesagte verkürzt wieder. Zudem schrieb er: «Es ist noch einmal festzuhalten, dass selbstredend jeder Fall vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu beurteilen sein wird. Wenn dies auch zukünftig zu Freisprüchen führen wird, liegt das nicht an irgendeiner Einstellung des Richters, sondern an dessen Anwendung der massgeblichen Rechtsprechung des EGMR.»

Anschein der Befangenheit bejaht

Diese Äusserung, meinte das Obergericht, erwecke «gerade mit Blick auf Harris’ Äusserungen gegenüber den Kindern einer Freigesprochenen den Anschein, dass er nicht bereit ist, im anstehenden Gerichtsverfahren die rechtlichen Argumente aller Parteien zu prüfen resp. seine Auffassung betreffend die Rechtsprechung des EGMR jeweils aufs Neue zu hinterfragen». Damit sei der Anschein der Befangenheit zu bejahen.

Urteile 1B_643/2022; 1B_10/2023; 1B_14/2023; alle vom 6. April 2023