Ausnahmezustand in Ottawa«Hier ist etwas aus den USA herübergeschwappt»
In Kanada gehen Lastwagenfahrer und andere Demonstranten gegen Impfpflicht und Corona-Massnahmen auf die Strasse. Sie sind aggressiv, laut und rücksichtslos. Die Mehrheit ist entsetzt.
Dass die Proteste in Kanada gegen die Covid-Massnahmen der Regierung nun wirklich aus dem Ruder gelaufen sind, wurde Graham Fraser spätestens klar, als die Demonstranten in der Hauptstadt Ottawa die Statue von Terry Fox für ihre Zwecke missbrauchten. Fox wird in der Nähe des Parlaments mit einem Denkmal geehrt, weil er 1980 zu einem denkwürdigen Marathon of Hope aufbrach, um Geld für die Krebsforschung zu sammeln. Wer sich an dieser Statue vergehe, sagt Fraser, ein leitendes Mitglied der Universität von Ottawa, einst Professor für Kanada-Studien am McGill-Institut, der vergehe sich am Gedächtnis des Landes.
Seit knapp eineinhalb Wochen protestieren in Ottawa Lastwagenfahrer und andere Demonstranten gegen eine Impfpflicht und die Vorgabe, zum Beispiel im Supermarkt Masken zu tragen. Laut dem städtischen Polizeichef Peter Sloly waren es am vorvergangenen Wochenende 3000 Laster und knapp 15’000 Menschen, die gegen die Massnahmen auf die Strasse gingen. Am vergangenen Wochenende seien es immer noch 1000 Trucks und 5000 Menschen gewesen. Tag und Nacht, erzählt Fraser am Telefon, hätten die Trucker auf ihre Hupen gedrückt.
Die Menschen übten sich in Toleranz
Das alles hätte in einem als ruhig und vernünftig oder gar als angenehm langweilig bekannten Land wie Kanada ohnehin für Aufsehen gesorgt. Anfangs, sagt Fraser, hätten viele Menschen trotz des infernalischen Lärms der Hupen noch gedacht, man müsse das aushalten, nicht zuletzt der Demonstrationsfreiheit wegen. Aber die Terry-Fox-Sache ging zu weit.
Wenn man sich mit Kanadiern darüber unterhält, was in den vergangenen eineinhalb Wochen in ihrer Hauptstadt, aber auch in Provinzen wie Alberta, British Columbia, Manitoba oder Saskatchewan passiert ist, wo es ebenfalls Proteste gegen die Corona-Regeln des Staates gab, klingt die Empörung zunächst fast rührend. Es sei «öffentlich uriniert» worden, erfährt man zum Beispiel. Menschen hätten es sich auf einem Denkmal zu Ehren der Kriegstoten gemütlich gemacht.
Das klingt im Vergleich zu dem, was Anhänger des abgewählten, früheren US-Präsidenten Donald Trump vor gut einem Jahr auf dem Capitolshügel in Washington veranstaltet haben, beinahe wie eine freundliche Form des Protests. Aber es wiegt dennoch schwer, weil in Kanada die Massstäbe des gesellschaftlich Akzeptablen noch längst nicht so weit verschoben worden sind wie in den USA.
Die Statue von Terry Fox: Er hatte als Teenager wegen einer Krebserkrankung ein Bein verloren. Trotzdem machte er sich im Jahr 1980 auf, das Land zu durchqueren, um Geld für Krebskranke zu sammeln. 24,5 Millionen Menschen lebten damals in Kanada (heute sind es 38 Millionen), und Fox hoffte, von jeder einzelnen Person im Land einen Dollar zu bekommen. Er lief jeden Tag einen Marathon.
Nach 143 Tagen und 5373 Kilometern konnte er nicht mehr. Aber sein Lauf der Schmerzen wies über sich und über ihn hinaus. Fox starb im Alter von 22 Jahren an seiner Krebserkrankung und wurde ein nationales Symbol. Ein Idol. Ein Vorbild.
Die Covid-Demonstranten in Ottawa hüllten seine Statue ein, in Fahnen und in Banner, beschrieben mit ihren Slogans. Für Menschen, die sich nicht auskennen mit der Geschichte Kanadas: eine Kleinigkeit. Für die meisten Kanadier: ein Affront.
Jessica Johnson ist Chefredaktorin des kanadischen Magazins «The Walrus», das man sich vorstellen muss wie den amerikanischen «New Yorker», nur eben kanadischer: Das Magazin ist ebenso toll, eine Mischung aus Politik und Poesie, aber es macht keinen Profit, es ist als Stiftung angelegt. Johnson sagt: «Hier ist etwas aus den USA herübergeschwappt, und ich weiss noch nicht genau, warum das so ist.» Damit meint sie, dass jetzt bei Covid-Protesten in Kanada Südstaaten-Flaggen zu sehen sind. Dass Teile der Demonstranten offen rassistisch sind. In der kanadischen Presse finden sich Artikel darüber, wie Demonstranten asiatische Frauen mit Schmähungen überziehen.
Johnson lebt in Toronto. Ungefähr die Hälfte der Bewohner dieser Stadt wird einer Minderheit zugerechnet. Es gibt kaum einen Ort auf der Erde, dessen Innenstadt so sehr aussieht wie eine Zusammenkunft von allen Teilen der Welt. Da ihr Lebensgefährte in Ottawa wohnt, direkt beim Parlament, hat sie die Proteste dennoch aus der Nähe gesehen. Sie sagt: «Diese Leute haben sich wie Hooligans verhalten. Und viele von ihnen erinnerten mich an die Menschen, die in den USA auf Veranstaltungen von Donald Trump gingen.»
In Kanada haben sich laut Regierungsangaben 84 Prozent der Bevölkerung impfen lassen. Man kann also nicht von einem impfskeptischen Land sprechen. Doch die impfskeptische Minderheit war zuletzt sehr laut.
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In den USA sind die vergleichsweise niedrigen Impfquoten nicht immer, aber meist politisch zu erklären. Unter vielen Republikanern besteht eine Abneigung gegen die Impfung allein deshalb, weil die Demokraten sie empfehlen. Kanada kannte diese extreme und in Teilen irrationale Spaltung bisher nicht. Der vormalige Professor Fraser sagt, ein wenig amüsiert, aber meistenteils frustriert: «Dazu kommt ein tiefes Unverständnis davon, wie Politik in diesem Land funktioniert.»
Die Demonstranten sind in die Hauptstadt Ottawa gezogen, um ihren Protest direkt bei Premierminister Justin Trudeau zu hinterlegen. Allerdings, sagt Fraser, sei Kanada ein äusserst föderal organisiertes Land, was heisse, dass die Bundesstaaten Fragen nach Masken- oder Impfpflicht selbst entscheiden könnten. Trudeaus Macht, etwas zu ändern, sei äusserst begrenzt. Selbst wenn er wollte: Er könnte in, zum Beispiel, Alberta, British Columbia, Manitoba oder Saskatchewan nichts tun.
Den Titel der «Rand-Minderheit» haben manche Demonstranten sich umgehend auf ihre Plakate gepinselt.
Trudeau ist kürzlich an Covid erkrankt. Dennoch gab er ein Statement ab. Bei den Demonstranten, sagte er, handele es sich um eine «Fringe Minority», um eine «Rand-Minderheit». Diesen neu verliehenen Titel der «Rand-Minderheit» haben manche Demonstranten sich umgehend auf ihre Plakate gepinselt.
Am Sonntag hatte Ottawas Polizei-Chef Peter Sloly den Notstand in der Hauptstadt ausgerufen. Das gibt der Polizei mehr Befugnisse, gegen die Demonstranten vorzugehen. Die meisten Beobachter gehen daher davon aus, dass das Schlimmste bald vorbei sein wird, vielleicht schon am kommenden Wochenende.
Der harte Kern der Demonstranten hat hingegen angekündigt, so lange im Zentrum der Hauptstadt auszuharren, bis alle Corona-Massnahmen aufgehoben werden.
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