Fälle von KindsmissbrauchVerjährung soll bei Sexualstraftaten aufgehoben werden
Ein SVP-Vorstoss erzielte im Nationalrat überraschend eine Mehrheit – dank Stimmen aus der Mitte und der FDP. Die Linke ist dagegen.
Irgendwann verjährt fast alles. Leichte Straftaten nach fünf Jahren, schwere wie Mord nach dreissig Jahren. Nur ganz wenige Taten sind unverjährbar, dazu gehören Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und – seit einem Volksentscheid von 2008 – schwere Sexualstraftaten an Kindern unter zwölf Jahren. Der St. Galler SVP-Nationalrat Mike Egger will nun, dass die Unverjährbarkeit für alle Opfer unter sechzehn Jahren gilt. Und er verbuchte in dieser Session einen überraschenden Erfolg: Der Nationalrat stimmte seiner Motion mit deutlicher Mehrheit zu. Bisher hatte sich das Parlament zu Forderungen nach Unverjährbarkeit ablehnend geäussert.
Noch muss der Vorstoss den Ständerat passieren, doch wenn FDP und Mitte dort gleich stimmen wie im Nationalrat, schafft er auch diese Hürde. Und das ist bemerkenswert. Die FDP war in früheren Debatten zum Thema skeptisch, aus staatsrechtlichen Überlegungen wollte sie nicht am Prinzip der Verjährbarkeit rütteln. Die Mitte hatte sich 2023 noch ablehnend dazu geäussert.
Im Herbst 2023 kam eine Studie zum Ausmass des sexuellen Missbrauchs im Umfeld der katholischen Kirche ab 1950 heraus. 1002 Fälle wurden dokumentiert, in drei von vier Fällen war das Opfer minderjährig. Das bewog Egger zum Handeln. Viele dieser Straftaten sind nach Jahrzehnten verjährt. Sollten die Opfer den Täter jetzt noch anzeigen wollen, geht das nicht mehr. Für Egger ist das stossend – wenige Tage nach der Publikation der Studie reichte er die Motion ein.
Wende in der Mitte
Es war nicht nur der Kirchenskandal, der für ihn den Ausschlag gab. Auch andere Fälle wie jener des früheren Gemeindepräsidenten von Berneck SG, Eggers Heimatgemeinde, der wegen gewalttätiger Kinderpornografie eine Therapie bekam anstelle einer Gefängnisstrafe, störten ihn. «Wer Kinder schwer missbraucht, soll hart bestraft werden – die Möglichkeit, den Täter anzuzeigen, soll dem Opfer ein Leben lang offenstehen», sagt Egger.
Überraschend war das Ja der christlichdemokratischen Mitte, die sich damit von der katholischen Kirche distanzierte. Parteipräsident Gerhard Pfister will das allerdings nicht so verstanden wissen. Zwar habe unter anderem der Missbrauchsskandal die Mitte dazu bewogen, Eggers Motion zuzustimmen. Doch das sei keine Distanzierung von der Kirche, sondern von solchen Fällen im Allgemeinen – «ganz unabhängig davon, in welcher Institution sie sich ereignen».
Keine Unterstützung gab es von links: Grüne und SP stimmten gegen die Motion. Dabei verhandelte der Nationalrat in derselben Session die Forderung für ein Schutzkonzept gegen sexuellen Missbrauch in Institutionen wie Kirchen, Schulen und Vereinen. Eingereicht worden war sie unter anderem von Tamara Funiciello (SP) und Greta Gysin (Grüne). Als Funiciello vor dem Rat für ihre Motion warb, intervenierte Mike Egger: Ob sie auch bereit sei, seiner Forderung für die Unverjährbarkeit von schweren Straftaten an unter Sechzehnjährigen zuzustimmen?, fragte er im Plenum.
Funiciello antwortete: «Sehen Sie, Herr Egger, diese Frage kommt aus Ihrer Ecke jedes Mal.» Er setze direkt bei den Strafen an, während sie die Prävention stärken wolle. Sie sagte: «Manchmal habe ich ehrlich gesagt ein bisschen das Gefühl, dass Ihre Partei sich darüber freut, dass etwas passiert, weil wir dann über Strafen reden können.» Für Mike Egger unverständlich – es gehe ihm darum, dass der Rechtsweg nicht verbaut sei, wenn der Missbrauch zu spät auskomme oder das Opfer länger brauche, um sich zu melden.
Die Zeit heilt – aber nicht alle Wunden
SP-Ständerat Daniel Jositsch überlegt sich, zur Motion Egger Ja zu sagen. Das Prinzip der Verjährung folge einerseits dem Gedanken, dass die Zeit alle Wunden heile, und gehe zweitens davon aus, dass Ermittlungen und Spurensuche nach mehreren Jahrzehnten kaum mehr möglich seien. Ersteres stimme nur bedingt, sagt Jositsch: «Ein Veloklau ist wahrscheinlich nach zehn Jahren nicht mehr so schlimm. Für Angehörige eines Mordopfers sieht es anders aus.»
Und zum zweiten Gedanken: Die Ermittlungstechnik habe derartige Quantensprünge gemacht verglichen mit der Zeit, in der das Gesetz entstanden sei, dass es heute durchaus möglich sei, ein Verbrechen auch nach Jahrzehnten noch nachzuweisen, etwa mittels DNA-Spuren. Jositsch unterstützt Egger deshalb bei einer anderen pendenten Forderung: jener nach Unverjährbarkeit bei Mord. Anstoss dafür war der sogenannte Kristallhöhlenmord von 1982, als im Rheintal SG zwei jugendliche Mädchen auf einer Velotour verschwanden und Wochen später bei den Kristallhöhlen, einem Ausflugsziel, gefunden wurden. Aufgeklärt wurde das Verbrechen nie. Genauso wie zahlreiche andere aus jener Zeit, etwa eine Serie von Kindesentführungen und -tötungen, von denen rund ein Dutzend bis heute nicht aufgeklärt wurden. «Man stelle sich vor, der oder die Täter würden plötzlich auftauchen, könnten aber nicht mehr belangt werden. Das wäre total stossend», sagt Jositsch.
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