Interview zur Pandemie-Eskalation an den Schulen«Man hätte das Virus nicht so ungehindert zirkulieren lassen sollen»
Die Schulen, aber auch Eltern, Kantone und der Bund hätten es versäumt, Corona-Infektionen unter Kindern zu verhindern, kritisiert Taskforce-Experte Stefan Wolter.
Die Zahl der Corona-Infektionen an den Schulen nimmt derzeit schnell zu, die fünfte Welle scheint ungebremst. Sind Sie überrascht?
Das war zu erwarten. Die Taskforce hat schon vor mehreren Wochen gesagt, dass alle, die nicht geimpft sind, angesteckt werden. Und leider sind Kinder nicht geimpft. Das Problem ist, dass das Virus sich dann auch auf die Erwachsenen ausbreitet. Das bedeutet Eltern, bei denen es auch Impfdurchbrüche gibt, oder Lehrpersonen, die angesteckt werden. Das Virus unkontrolliert unter Kindern zirkulieren zu lassen, hat zwar für die Kinder individuell weniger Folgen, aber wenn so viele Kinder angesteckt werden, dann wird auch die Zahl schwerer Fälle zu hoch. Für die Eindämmung der Pandemie hätte man das Virus generell nicht so ungehindert zirkulieren lassen sollen, nicht nur an Schulen.
Wie hätte das verhindert werden können?
Die Taskforce hat zu Beginn des Jahres ein Papier verfasst, das mehrere Stufen vorsieht, welche Schutzmassnahmen in Schulen ergriffen werden sollten – Abstand halten, Masken tragen, lüften. Der letzte Winter hat gezeigt, dass das Einhalten dieser Massnahmen sehr wirksam war. Es ist schwer nachzuvollziehen, warum diese Massnahmen nicht schon vor Wochen wieder umgesetzt wurden. Die Maske etwa wurde ja wieder wochenlang aus den Schulzimmern verbannt. Gewisse Eltern haben mit Gerichtsklagen und Anwälten jeden bedroht, der auch nur die Maske anziehen wollte. Es wäre einfach gewesen. Aber man wollte es nicht.
Der Bundesrat hat heute weitere Massnahmen beschlossen, aber für die meisten Schulen gibt es nur eine Empfehlung, Masken zu tragen.
Das ist der Situation geschuldet, dass in dieser Lage die Kantone das Sagen haben. Da müsste der Bundesrat schon die ausserordentliche Lage ausrufen, um in den Schulen eingreifen zu können.
Sie kritisieren also vorab die Kantone?
Die Versäumnisse liegen bei den Kantonen und gleichzeitig ausgerechnet in den Schulen. Niemand hindert eine Schulleitung daran, eigene Massnahmen zu ergreifen. Viele dieser Massnahmen sind nicht verboten, auch wenn Eltern sich gegen eine Maskenpflicht sträuben. Es hätte auch ein bisschen Engagement und Mut aufseiten der Schulen gebraucht, die sich jetzt darüber beklagen, dass das Personal krank wird. Überhaupt – die Sache mit dem Impfen. Nach den Sommerferien wäre vor allem auch wichtig gewesen, dass das erwachsene Umfeld der Schulen gut geimpft gewesen wäre.
«Das ist unbegreiflich. In der Geschäftswelt sind ganz andere Massnahmen ergriffen worden als an den Schulen.»
Die Verantwortung liegt also bei den Lehrpersonen und Eltern, die sich nicht impfen liessen?
Ja, es ist unbestreitbar, dass eine hohe Impfquote bei den Erwachsenen auch der beste Schutz der Kinder gewesen wäre. Aber derzeit wissen wir nicht einmal, ob Lehrkräfte geimpft sind oder nicht. Zwar sagt die Lehrergewerkschaft LCH, dass der Anteil der Geimpften in der Lehrerschaft genau gleich hoch sei wie im Rest der Bevölkerung. Das heisst gleichzeitig, dass eine von vier Lehrpersonen nicht geimpft ist. Das ist einfach deutlich zu viel, um einen Betrieb ohne Schutzmassnahmen aufrechtzuerhalten. Das ist unbegreiflich. In der Geschäftswelt sind ganz andere Massnahmen ergriffen worden als an den Schulen.
Aber jetzt scheinen die Kinder die Treiber der fünften Welle zu sein.
Das kann man noch nicht sagen. Es könnte auch sein, dass die Erwachsenen das Virus in die Schulen tragen und ein Teil wieder zurückkommt. Dass die Kinder eine viel höhere Inzidenz haben als die Erwachsenen, hat damit zu tun, dass sie viel mehr soziale Kontakte haben. Kinder in einer Schule sind mit 20 oder noch mehr Personen in einem engen Austausch. Die meisten Erwachsenen sind weit davon entfernt, so viele enge soziale Kontakte zu haben. Kinder sind heute Opfer der Versäumnisse der Erwachsenen.
Was müsste jetzt getan werden im Hinblick auf die Weihnachtsferien?
Zuerst müssen wir vielleicht auch etwas gesunden Menschenverstand walten lassen. Ich höre von Schulen, die noch Weihnachtsfeiern abhalten, und Lehrern, die ein grosses Weihnachtsessen veranstalten. Das zeigt einfach, dass der Ernst der Lage noch nicht in allen Schulen angekommen ist. Statt Ferien vorzuziehen, hätte man früher mehr Fernunterricht machen oder in Halbklassen unterrichten können. Das reduziert die Kontakte, es gibt keine Mischung der Klassen an den Schulen mehr. Und vor allem: Alle, die noch nicht geimpft sind, Lehrpersonen, Erwachsene: sofort einen Termin vereinbaren!
Aber keine Schulen schliessen?
Schulschliessungen sind die Ultima Ratio. Wir haben immer gesagt: «Last to close and first to open» – wir schliessen als Letzte und öffnen als Erste. Wenn es keinen generellen Lockdown in der Gesamtgesellschaft gibt, gibt es auch keinen Grund, nur die Schulen zu schliessen. Sonst zirkuliert das Virus weiter unter den Erwachsenen, und die Kinder werden einfach zu Hause angesteckt.
Fehler gefunden?Jetzt melden.