Boris Johnson auf IntensivstationEin Karate-Fan und Musterschüler führt vorerst das Königreich
Aussenminister Dominic Raab vertritt nun den kranken Premier. Einen neuen starken Mann wollen seine Kabinettskollegen aber nicht.
Die gesamte Nation ist in Wartestellung, und die Nachrichten werden nicht wirklich besser. Seit am Montagabend bekannt geworden war, dass besorgte Ärzte im Londoner St. Thomas’ Hospital den Premierminister von einer Beobachtungs- auf die Intensivstation verlegen liessen, liegt eine fast physisch greifbare Schockstarre über London. Wie geht es weiter? Wird er es schaffen?
Pessimisten twitterten erbarmungslos neue Statistiken, nach denen mehr als 40 Prozent der mit dem Corona-virus infizierten Männer im Alter von 50 bis 69, die intensivmedizinisch behandelt werden müssten, den schweren Infekt nicht überleben würden. Optimisten versicherten sich gegenseitig, Johnson sei stark. Am Dienstagmorgen berichtete dann Minister Michael Gove, was im Laufe des Tages auch offiziell bestätigt wurde: Johnson sei bei Bewusstsein; er sei bisher nicht an ein Beatmungsgerät angeschlossen, werde aber mit Sauerstoff versorgt.
Kabinett muss zustimmen
Drei Stunden nach seinem Auftritt in der BBC musste dann Gove selbst in Quarantäne. Ein Mitglied seiner Familie, teilte er mit, weise milde Symptome auf, er werde sich daher selbst isolieren. Nach Johnson und dessen Verlobter, dem Gesundheitsminister, dem wissenschaftlichen Chefberater der Regierung und mehreren wichtigen Beratern ist nun Gove der nächste in Downing Street, der, wenngleich mittelbar, mit dem Virus kämpft.
Gove formulierte am Dienstag erkennbar strategisch, als er gefragt wurde, was das jetzt heisse: Der Premier in der Klinik, Ausgang ungewiss, und Aussenminister Dominic Raab, nicht gerade ein Liebling des Volkes, «deputising», also mit der Stellvertretung beauftragt. Raab werde «Briefings und Treffen leiten», sagte Gove, «an denen auch zahlreiche Berater teilnehmen», und man konnte den Subtext deutlich mitschwingen hören: Grössere Ambitionen wird das Kabinett zu verhindern wissen. Raab werde mithin, so Gove weiter, die Antwort der Regierung auf die Corona-Krise koordinieren. Für eine Exit-Strategie aus dem Lockdown etwa sei die Zustimmung des gesamten Kabinetts nötig.
Das Königreich hat keine geschriebene Verfassung, vieles wird nach einem über Jahrhunderte entwickelten Gewohnheitsrecht entschieden.
Gove befindet sich mit seiner Einschätzung darüber, wie die aktuellen Regierungsgeschäfte abgewickelt werden sollten, durchaus im Einvernehmen mit den meisten Staatsrechtlern. Das Königreich hat keine geschriebene Verfassung, vieles wird nach einem über Jahrhunderte entwickelten Gewohnheitsrecht entschieden. Es gibt formal keinen Vizepremier wie in vielen europäischen Staaten, und der Premier hat auch offiziell keine Richtlinienkompetenz, also kein Weisungsrecht über das Kabinett. Aber nach zahlreichen Medienberichten über anhaltende interne Streitigkeiten in einem Kabinett, das erst kurz im Amt ist und weniger nach Erfahrung oder Kompetenz denn nach Zugehörigkeit zum Lager der Brexiteers und der Begeisterung für Boris Johnson zusammengestellt wurde, kann es nicht verwundern, wenn die Profilierungsversuche auch in einer nationalen Krise nicht ausbleiben. Und so beharrte der Minister, der so gern Premier wäre und sich immer noch Chancen ausrechnet, darauf, dass Raab jetzt nicht der neue, starke Mann sei: «This is no take over.»
Andere Namen kursierten
Dass es Dominic Raab sein würde, der nun im Scheinwerferlicht steht, das hatte in Grossbritannien zuletzt niemand gedacht. Denn andere Namen kursierten in den Tagen vor der Corona-Krise – von Männern, die sich in den Augen ihrer Bewunderer im Kabinett besonders profiliert haben: Dem jungen Finanzminister Rishi Sunak, der mit traumwandlerischer Sicherheit auftritt, obwohl er erst kurze Zeit im Amt ist, wird euphorisch attestiert, er habe «das Talent zum Chef» und wirke wie ein «Premier im Wartestand». Auch Matt Hancock, der als Gesundheitsminister viel zu oft erklären muss, warum die Regierung so viele Fehler macht, hat an Profil gewonnen. Aber es ist der Aussenminister, den Boris Johnson vergangenen Sommer zum First Secretary of State und damit zu einer Art De-facto-Stellvertreter ernannt hat.
Raab wirkt oft angestrengt und wie ein Schüler, der vor Lehrern und Eltern mit besonders guten Noten auftrumpfen möchte. Wenn er unter Druck steht, pulsiert eine Ader dramatisch an seiner Schläfe. Der 46-Jährige ist der Sohn einer britischen Mutter und eines tschechoslowakischen Juden, der 1938 im Alter von sechs Jahren nach Grossbritannien geschickt wurde. Raab hat in Oxford und Cambridge Recht studiert und Erfahrungen in Brüssel, Ramallah und Den Haag gesammelt, ehe er im Aussenamt anheuerte und 2010 zum Abgeordneten gewählt wurde. Bis 2018 stieg er von zweitrangigen Posten als Unterstaatssekretär über mehrere Staatssekretärsjobs bis zum Brexitminister auf. Verbiegen musste er sich dafür nicht: Raab hatte sich in der Referendumskampagne 2016 für den EU-Austritt eingesetzt.
Er warf sich mit Verve ins Rennen um die Nachfolge von Theresa May, zeigte sich in den Medien mit schicken Homestorys und inszenierte sich als künftiger Tory-Chef mit Karategürtel, internationaler Erfahrung und Brexit-Begeisterung. Die Unterhausfraktion sah das anders: Raab fiel früh aus dem Rennen und stellte sich hinter Johnson. Dieser belohnte ihn nach seinem eigenen Sieg mit dem Job des Aussenministers.
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