Sorge um Fake News vor US-WahlenJoe Biden gerät wegen Tiktok unter Druck
In den USA wächst das Misstrauen gegen die chinesische Videoplattform. In der Kritik steht auch der Präsident, der nichts gegen Misinformation und fehlende Kontrolle unternimmt.
Tiktok hat sich in aller Stille zu einer neuen Drehscheibe von Falschinformationen und Verleumdungen entwickelt. Drei Monate vor den Neuwahlen in den Kongress warnen Forscher eindringlich vor der chinesischen Videoplattform. Politikerinnen und Politiker beider Parteien kritisieren Präsident Biden angesichts der undurchsichtigen Handhabung der Nutzerdaten.
Dabei sind die Risiken durch Tiktok heikler und ihre Bewältigung bis zu einem gewissen Grad schwieriger als die Bedrohung durch Twitter und Facebook. Auf keiner anderen Plattform verbringen die Nutzer in den USA heute mehr Zeit als auf Tiktok. Im Schnitt sind es täglich 82 Minuten, dreimal mehr als auf Snapchat und Twitter und doppelt so viel wie auf Facebook und Instagram.
Für zwei Drittel der Jugendlichen ist Tiktok die erste digitale Adresse, berichtet die auf Applikationen spezialisierte Analysefirma Sensor Tower. Das heisst, dass Tiktok mehr als die etablierten Plattformen Nutzer erreicht, die zum ersten Mal abstimmen können und potenziell leicht beeinflussbar sind.
«Extrem kurze Videos mit extrem verkürztem Inhalt machen eine angemessene politische Debatte fast unmöglich.»
Die Kontrolle und die Entfernung von Falschinformationen auf Tiktok ist schwieriger als auf Twitter oder Facebook. Für Texte haben die beiden etablierten Plattformen inzwischen Kontrollalgorithmen entwickelt und Zehntausende von Moderatorinnen und Moderatoren ausgebildet.
Tiktok dagegen wird vom chinesischen Techgiganten Bytedance kontrolliert, von dem nicht klar ist, wie und was er überwacht. Kurzvideos auf Tiktok seien oft in witziger Form gestaltet, und diese Schere zwischen Inhalt und Form erschwere die Meinungsbildung deutlich, sagt Kaylee Fagan, Technologieexpertin an der Harvard-Universität. «Extrem kurze Videos mit extrem verkürztem Inhalt machen eine angemessene politische Debatte fast unmöglich.»
Keine Transparenz
Tiktok war bei den Zwischenwahlen 2018 noch wenig bekannt und wurde bei den Präsidentschaftswahlen 2020 noch als simples Unterhaltungsmedium behandelt. Doch die Unschuldsvermutung gilt nicht mehr länger. So verbreitete Tiktok nach dem Massenmord in einer Primarschule in Uvalde (Texas) ein Video, wonach der Amoklauf inszeniert gewesen sei. Auch halten sich konstant Falschinformationen über Covid-19 und Transgender.
«Statt von den Fehlern von Facebook und Twitter zu lernen», sagt Odanga Madung, Forscher der Mozilla Foundation, folgt Tiktok in deren Fussstapfen. Er verweist auf Desinformationen bei den Wahlen auf den Philippinen, in Kolumbien, Kenia, Australien, Frankreich und Deutschland, wo Falschinformationen über Kandidaten längere Zeit stehen blieben, bevor sie entfernt wurden.
Wie viele Moderierende die Plattform beschäftigt, ist nicht bekannt. Forschende der Indiana University wollten mehr wissen und schlugen Tiktok eine Kooperation vor, doch wurde die Idee abgewiesen. «Bei Facebook und Twitter hat man immerhin eine gewisse Transparenz. Doch bei Tiktok wissen wir nicht, welche Inhalte entfernt werden, welche Kriterien gelten und wer von der Plattform verbannt wurde», sagte Informatikprofessor Filippo Menczer von der Indiana University der «New York Times».
«In China wird alles gesehen»
Solche Risiken kurz vor den Wahlen haben den Unmut im Kongress angeheizt. Mit ein Grund: Präsident Joe Biden hatte vor einem Jahr Amtsstellen und Kommissionen auf das Dossier angesetzt und versprochen, hart gegen ausländische Plattformen durchzugreifen, die den nationalen Interessen schaden könnten. Geschehen ist bisher allerdings nichts.
Politiker beider Parteien kritisieren, dass Biden dem Dossier zu wenig Gewicht beimesse, obwohl Recherchen durch Buzzfeed gezeigt haben, dass Angestellte in China auf die Daten amerikanischer Nutzer zugreifen können. «In China wird alles gesehen», wird ein Tiktok-Mitarbeiter zitiert.
Michael Beckerman, Cheflobbyist von Tiktok, erklärte danach auf CNN, dass die Datensammlerei verglichen mit der Konkurrenz «vernachlässigbar klein» sei. Auch würden die US-Daten nicht nach China exportiert, sondern auf Servern von Oracle gespeichert.
Biden setzt auf weitere Verhandlungen zwischen Tiktok und dem Committee on Foreign Investment in the United States. Das ist die gleiche Kommission, die bereits mit Huawei eine Einigung erzielen wollte, und gescheitert ist. Auch der Versuch des Handelsministeriums, Apple und Google zum Entfernen der Tiktok-App zu bewegen, bewirkte bisher nichts. «Es war ein grosser Fehler, die Restriktionen gegen Tiktok aufzuheben», meint Palmer Luckey, Gründer der Headset-Firma Oculus. Doch jetzt die Schrauben noch anzuziehen und so die jugendlichen Wähler zu vergraulen, wäre politisch ein Eigentor.
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