US-Regierung unter Joe BidenDer Nahbare mit der Wetterfahne
Wie wird der künftige amerikanische Präsident regieren? Zwei Bücher lassen erahnen, was Joe Biden in seiner Amtszeit vorhat. Vieles spricht für eine neue Politik der Fairness.
Etwa eine Woche nach der US-Wahl, als Joe Biden schon als Sieger feststand, kursierte im Internet ein Brief vom November 2014. Er war überschrieben mit «To my wonderful staff»; Biden erinnerte seine Mitarbeiter daran, dass er es weder erwarte noch wünsche, dass sie wegen der Arbeit «wichtige familiäre Verpflichtungen verpassen oder opfern». Der damalige Vizepräsident schrieb auch: «Wenn ich herausfinden sollte, dass ihr mit mir arbeitet und deswegen wichtige Familienzeit verpasst, würde mich das enorm enttäuschen.»
Das Memo ist nicht nur bemerkenswert, weil Donald Trump so etwas nie schreiben würde. Es bündelt die Essenz von Joseph Robinette Biden II. Wieso ihm nichts wichtiger ist als die Familie, hat er in «Versprich es mir» beschrieben. Das Buch wurde 2017 in den USA zum Bestseller, weil das Land miterlebt hatte, wie Biden seinen ältesten Sohn Beau verlor, der den Kampf gegen einen Gehirntumor nicht gewinnen konnte.
Er ist kein Revolutionär, sondern ein Inkrementalist
Damals, Ende Mai 2015, überlegte Biden noch, ob er antreten sollte, um Barack Obama nachzufolgen. Wie er um Beau bangt, während dessen Behandlung auf Genesung oder zumindest gute Nachrichten wartet, sowie die spätere Trauer bilden den Kern des Buches. Aber weil Biden und dessen Ghostwriter die Geschichte des Schmerzes klug mit Schilderungen seiner Arbeit als Obamas Vize inklusive der Irak- oder Ukraine-Reisen verbinden, hilft die Lektüre, den 46. US-Präsidenten besser zu verstehen. Ein Revolutionär ist er nicht, sondern ein Inkrementalist, der Dinge Schritt für Schritt verbessern will.
Der Senat wird zu seiner zweiten Familie. Auch deshalb glaubt Biden bis heute, mit Republikanern zusammenarbeiten zu können.
Das Buch beginnt an Thanksgiving 2014. Beau ist damals Justizminister des Bundesstaats Delaware, viele sehen in ihm einen künftigen US-Präsidenten. Er ist geschwächt vom Krebs und äussert einen Wunsch: Dad soll 2016 kandidieren. Dass Biden lange überlegt, liegt auch daran, dass er Schicksalsschläge kennt. Im Dezember 1972, als er mit 29 zum US-Senator in Delaware gewählt worden war, packte seine Frau Neilia die einjährige Tochter und die beiden Söhne ins Auto. Beim Abbiegen rammte ein Laster ihren Chevrolet: Neilia und Tochter Naomi waren sofort tot. Biden dachte daran, aus der Politik auszusteigen, doch viele Senatoren aus beiden Parteien ermutigten ihn, sich mit Arbeit abzulenken.
Der Senat wird zu seiner zweiten Familie. Auch deshalb glaubt Biden bis heute, mit Republikanern zusammenarbeiten zu können. Während sein Sohn ums Überleben kämpft, ackert er 14 Stunden täglich. Der Wechsel von politischen Analysen zu intimen Momenten ist stimmig, denn genau so durchlebte Biden die schwere Zeit. Am 29. März 2015 schreibt er in sein Tagebuch: «Gerade gelandet. 6:07. Ich fühle mich so verdammt einsam.» Nach einem Besuch von Elton John im Weissen Haus erinnert er sich, dass er mit seinen Söhnen früher laut dessen Lied «Crocodile Rock» gegrölt hat. Am Krankenbett singt Biden die wenigen Zeilen, die ihm noch einfallen: «Beau öffnete die Augen nicht, aber durch meine Tränen konnte ich sehen, dass er lächelte.»
Biden stellte sich selbst als arm dar
Nahbarkeit ist bis heute die Stärke des Politikers Joe Biden. Er zieht Energie aus Begegnungen mit Menschen und gibt Fremden seine Handynummer, wenn sie vom Verlust eines geliebten Menschen erzählen. Gerade jetzt, in der Corona-Zeit, findet er die richtigen Worte für die Trauernden. Manche Schwäche verbirgt er nicht: Als ihn Obama bat, sein Vize zu werden, lehnte Biden zunächst ab. Seiner zweiten Frau Jill sagte er zur Begründung, dass er selber nie einen Chef gehabt habe. Ihr Konter: «Hör mal, Joe. Werd’ endlich erwachsen.»
Dass er Obama bewundert, hat Biden stets offen gezeigt. Aber er war tief enttäuscht, dass sein Freund ihn nie ermuntert hat, 2016 anzutreten. Obama redete ihm dies sogar aus: Eine dritte gescheiterte Präsidentschaftskandidatur würde seine Lebensleistung beschädigen. Biden verzichtete schliesslich, weil der Schmerz über Beaus Tod zu gross war. Er ist aber eitel genug, die Umfragen seiner Berater zu zitieren: «Ich war dort am stärksten, wo die herausragende Kandidatin Hillary Clinton am schwächsten war: in den wichtigen Swing States Pennsylvania, Ohio und Florida.» Dass genau dort 2016 derjenige gewann, dessen Namen im Buch nie genannt wird, wissen wohl alle Leserinnen und Leser.
Biden hat es früher an Empathie gefehlt, um zu wissen, wie nah man Frauen kommen darf.
Biden verachtet Donald Trump zutiefst. Wie er ihn 2020 besiegen konnte, schildert Evan Osnos in seinem Porträt, das «Versprich es mir» gut ergänzt. Der Reporter des New Yorker beschreibt die ganze Karriere Bidens, der nicht in der Bürgerrechtsbewegung aktiv war, aber später ein enges Verhältnis zur afroamerikanischen Community aufbaute. Dies rettete ihm 2020 die Kandidatur. Nachdem er in der Schule als Stotterer gehänselt wurde, übte er, die Unabhängigkeitserklärung zu zitieren, und wurde zu einem guten Redner. Die Überzeugung, durch Willenskraft fast alle Hindernisse überwinden zu können, hat er heute noch.
Selbst in Washington, dem «Mekka der Schaumschläger», fiel Biden als Selbstdarsteller auf, ehe er als Chef der Ausschüsse für Aussenpolitik und Justiz zu einer Schlüsselfigur wurde. Osnos füllt einige Lücken: Er erwähnt die Drogensucht von Bidens Sohn Hunter sowie dessen anrüchige Entscheidung, sich von einem ukrainischen Gasproduzenten anheuern zu lassen, den nur sein Nachname interessierte. Sich selbst stellte Biden als arm dar (was er im Vergleich zu den Clintons auch ist), aber Osnos ergänzt seine Standardaussage «Ich trage zwar mässig teure Anzüge, besitze aber keine einzige Aktie oder Anleihe» mit dem Hinweis, dass die Wertpapiere auf den Namen seiner Frau laufen. Und es fehlen auch nicht die Vorwürfe, die einige Frauen im Wahlkampf 2020 erhoben: Biden hat es früher an Empathie gefehlt, um zu wissen, wie nah man Frauen kommen darf.
Er will der «progressivste Präsident» seit Roosevelt sein
Was er wird umsetzen können, ist offen. Im Sommer sagte er Osnos, er wolle der «progressivste Präsident seit FDR» werden: Franklin D. Roosevelt baute mit seinem New Deal in den Dreissigern das Land um. Biden war stets wandelbar. Wenn er als «Wetterfahne» beschrieben wird, ist dies nicht negativ: Er orientiert sich dorthin, wohin sich die Stimmung des Landes bewegt. Er hat sowohl Bernie Sanders als auch die Linke Alexandria Ocasio-Cortez eingebunden, sodass die Furcht vor großen Grabenkämpfen unter den Demokraten übertrieben sein könnte. Er weiss, dass er Bernie und AOC zuhören muss, und ist, so der Konsens in Washington, nach Beaus Tod nicht mehr so arrogant wie früher.
Manche Mitarbeiter klagen, dass Biden mitunter «Fremden, die ein Selfie an seiner Seite schiessen möchten, grössere Dankbarkeit» zeige, als jenen, die jahrelang dafür schufteten, ihn im Amt zu halten. Solche Details sind eine gute Ergänzung zum zitierten Memo. Vieles spricht aber dafür, dass Biden jene Männer und Frauen für seine Regierung gewinnen kann, die er für eine neue Politik der Fairness braucht.
Joe Biden: Versprich es mir. Über Hoffnung am Rande des Abgrunds. Aus dem Englischen von Henning Dedekind und Friedrich Pflüger. Verlag C.H. Beck, München, 2020. 250 Seiten, ca. 32 Franken.
Evan Osnos: Joe Biden - Ein Porträt. Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff und Stephan Gebauer. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2020. 263 Seiten, ca. 30 Franken.
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