Kommentar zum VideogipfelJetzt kennt Putin den Preis – und die Welt rechnet mit
Wenn der russische Präsident die Ukraine zerstückeln will, wird ihn niemand davon abhalten. Trotzdem könnte das Gespräch mit Joe Biden etwas gebracht haben.
Joe Biden kann nicht verhindern, dass Wladimir Putin die Ukraine überfällt. Niemand sollte sich der Illusion hingeben, Amerika werde Truppen schicken, um das Land im Notfall zu retten. Militärisch ist die Lage ganz einfach: Wenn der russische Präsident zum Schluss kommt, er müsse seine Armee unbedingt im Nachbarland einmarschieren lassen, um Rache für irgendeine eingebildete nationale Schmach zu nehmen oder um Russland angebliche Einflusssphäre zu verteidigen, dann wird er das tun – und kein GI wird sich ihm in den Weg stellen.
Das Gipfeltreffen, zu dem der US-Präsident sich am Dienstag mit seinem Kollegen in Moskau per Video zusammengeschaltet hat, hatte einen anderen Zweck. Biden hat Putin mitgeteilt, welchen Preis Russland für einen Einmarsch in der Ukraine bezahlen müsste. Vor sieben Jahren, nach dem Raub der Krim, kam Moskau damit davon, dass die Westkonten von ein paar Machtmenschen aus dem Kreml-Dunstkreis eingefroren wurden und Russland in einigen internationalen Gremien nicht mehr mitreden durfte. Das war lächerlich, und Putins aggressives Verhalten seither hat gezeigt, dass derartiger Kleinkram ihn nicht beeindruckt.
US-Präsident Biden macht sich keine Illusionen zu Charakter und Absichten des Kreml-Chefs, der Dissidenten einsperrt, Kritiker vergiftet und in aller Seelenruhe einen Nachbarstaat zerstückelt – und damit zugleich die europäische Nachkriegsordnung zerstört, deren Kern das Verbot ist, Grenzen mit Gewalt zu verschieben.
Washington wird im Fall einer Invasion harte Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängen, die dem Land praktisch alle Geschäfte unmöglich machen, für die auch nur ein einziger Dollar notwendig ist. Die EU wird Russland ‒ hoffentlich ‒ ebenso konsequent vom Zahlungsverkehr mit dem Euro abschneiden. Auch die EU warnte anlässlich des Videogipfels Russland vor einer Militäroffensive und drohte mit neuen Sanktionen.
Angesichts einer befürchteten russischen Invasion in der Ukraine gerät auch die neue deutsche Regierung wegen der umstrittenen Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 unter Druck aus den USA. Wer glaubt, Deutschland und Russland könnten die Gaspipeline trotzdem noch in Betrieb nehmen, wird sich dann wohl wundern.
In der Praxis wird Russlands ohnehin nicht sehr beeindruckende Wirtschaft durch die Sanktionen des Westens mittelfristig zu einem Anhängsel der chinesischen werden, abgesehen von dem einen oder anderen Tauschgeschäft mit Syrien oder Venezuela. Putin muss entscheiden, ob er das will.
Je klarer Biden jetzt Putin wissen lässt, wo für ihn die roten Linien verlaufen, desto besser.
Biden wird auch deswegen harsch gegenüber Putin reagieren, weil er weiss, dass andere Autokraten zuschauen. Amerikas Ruf als entschlossene Weltmacht hat durch die demütigende Flucht aus Afghanistan schwer gelitten. Biden will das korrigieren – er muss es korrigieren, denn wir leben in einer gefährlichen Zeit.
Der amerikanische Präsident hat es derzeit gleich mit drei internationalen Krisen zu tun, die im Fall von falschen Entscheidungen alle die Gefahr bergen, dass die USA in eine militärische Auseinandersetzung gezogen werden: Russlands Kriegstreiberei an der Ostgrenze der Nato, Chinas Aggression gegenüber Taiwan sowie Irans strammer Marsch in Richtung Atombombe. In zwei dieser Krisen stehen die USA nuklear bewaffneten Staaten gegenüber. Jede Fehlkalkulation, jedes Missverständnis kann furchtbare Folgen haben.
Je klarer Biden jetzt den russischen Präsidenten wissen lässt, wo für ihn die roten Linien verlaufen, und je schneller die angedrohten Kosten Russland auch tatsächlich aufgebürdet werden, wenn es diese überschreiten sollte, desto besser. Vielleicht fliesst dieses Wissen in Putins Berechnungen dazu ein, ob ein Einmarsch in der Ukraine sich wirklich lohnt. Oder ob es nach 30 Jahren nicht doch an der Zeit wäre aufzuhören, dem untergegangenen Sowjetimperium nachzutrauern.
Und vielleicht sehen die Machthaber in Peking und Teheran auch eine Warnung darin, wie Biden sich im Konflikt mit Putin verhält. Dann hätte der Videogipfel die Welt etwas sicherer gemacht.
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