Erster weiblicher NHL-CoachDiese Frau erklärt den Männern das Eishockey
Die Kanadierin Jessica Campbell (32) dirigiert neu die Männer des NHL-Teams Seattle Kraken als Assistenztrainerin. Das könnte einiges auslösen. Ihre erstaunliche Geschichte.
So verheerend die Corona-Pandemie war, sie schuf auch Raum für Neues. In der Zeit, in der alles stillstand, lancierte Jessica Campbell ihre bemerkenswerte Karriere im Männereishockey. Zum Saisonstart am 8. Oktober debütierte sie nun bei Seattle Kraken als erste weibliche Assistenztrainerin in der 107-jährigen Geschichte der NHL.
In den drei anderen US-Profiligen, im Basketball, im Baseball und im Football, hatte es schon weibliche Coachs gegeben, aber nicht im konservativ geprägten Eishockey. Bis Campbell kam. Und sie macht hinter der Bank Seattles den Eindruck, als hätte sie nie etwas anderes getan. Dabei hätte sich das die frühere kanadische Nationalspielerin vor einigen Jahren noch nicht träumen lassen.
Doch dann kam die Pandemie: Als die NHL-Saison im März 2020 wegen des Coronavirus auf unbestimmte Zeit unterbrochen wurde, schauten sich die Profis nach Möglichkeiten um, sich fit zu halten, bis es irgendwann weitergehen würde. Damon Severson, der damals bei New Jersey spielte, wandte sich an Campbell, mit der er in der kanadischen Provinz Saskatchewan aufgewachsen war. Diese hatte sich im Jahr zuvor als Powerskatingcoach selbstständig gemacht und leitete in Kelowna Trainingssessions für kleinere Gruppen.
Die NHL-Cracks waren sofort begeistert
Severson fragte, ob er auch kommen könne, und brachte gleich auch einige Teamkollegen und Freunde mit. Campbell arbeitete mit ihnen nicht nur am Schlittschuhlaufen, sondern führte temporeiche Trainingseinheiten durch, in denen sie Spielsituationen simulierte. Die NHL-Cracks waren begeistert, und das sprach sich herum. Schon bald wuchs die Gruppe prominenter NHL-Spieler, die ihre Trainings besuchten.
Eigentlich hatte Campbell gedacht, als Skatingcoach ihren Weg in die NHL zu finden. Aber das positive Feedback der NHL-Stars brachte sie auf die Idee, ihr Tätigkeitsfeld zu erweitern: «Die Jungs in Kelowna gaben mir quasi die Erlaubnis, an diesen Traum zu glauben», sagte sie gegenüber «The Athletic».
Schritt für Schritt etablierte sie sich im Männereishockey. Sie arbeitete in Malmö als Skatingcoach, ehe Nürnbergs Headcoach Tom Rowe sie in der Saison 2021/22 beizog, um mit den Spielern nicht nur am Läuferischen, sondern auch an der Technik zu arbeiten. Zudem übertrug ihr Rowe das Powerplay – und prompt funktionierte es wieder. Für sie eine wichtige Erfahrung: Hatte sie zuvor mit den Spielern an den individuellen Fähigkeiten gefeilt, brachte sie diese nun zusammen. «Jetzt konnte ich die Punkte verbinden und dachte: Das macht Spass», sagte sie rückblickend.
Sie überzeugte Rowe so sehr, dass er sie für die WM 2022 in Helsinki als Assistentin von Headcoach Toni Söderholm im deutschen Nationalteam vorschlug. Der Finne war offen dafür, ernannte sie zur Co-Trainerin an der Bande und übertrug ihr das Unterzahlspiel. Zudem arbeitete sie in den Trainings mit den Spielern wie Detroits Jungstar Moritz Seider individuell.
Die Frage des slowakischen TV-Journalisten
Schon da war sie die Pionierin: Sie war die erste Frau an der Bande an einer Männer-WM. Das schlug hohe Wellen und sorgte für kuriose Fragen wie jene eines slowakischen TV-Journalisten, der in der Mixed Zone wissen wollte: «Wie ist es, als schöne Frau in einem Team voller gut aussehender Männer zu sein?» Campbell blieb souverän.
Für Söderholm, der 2022/23 den SC Bern coachte und kürzlich bei Red Bull München freigestellt wurde, war die Zusammenarbeit mit ihr eine äusserst positive Erfahrung: «Die Spieler spürten, dass sie jederzeit für sie da war. Sie brachte einen anderen Blickwinkel ein. Sie kam vom Fraueneishockey, wo man die Dinge etwas anders sieht oder analysiert. Das war bereichernd. Und sie hat als Frau einen anderen Umgang mit den Spielern. Sie ist sehr direkt, aber ihre Sprache ist eine andere. Im Zwischenmenschlichen spürt sie Dinge, die ein Mann vielleicht nicht merkt.»
Söderholm: «Sie ist eine sehr, sehr mutige Frau»
Er freue sich sehr für Campbell, dass sie ihr Weg nun sogar in die NHL geführt habe, sagt der Finne. «Sie ist eine sehr, sehr mutige Frau. Wenn man Pionierarbeit leistet, braucht das immer Mut. Sie ist von sich überzeugt, in einem positiven Sinne. Und verfolgt ihren Weg konsequent. Sie steckt so viel Leidenschaft in ihren Beruf, und es ist schön, zu sehen, dass das belohnt wird.»
An der WM in Helsinki fiel sie erstmals Dan Bylsma auf, der Coach der neu gegründeten AHL-Franchise Coachella Valley in Südkalifornien wurde, dem Farmteam Seattles. Der langjährige NHL-Trainer war daran, sich neu zu erfinden, und suchte neue Ansätze und Stimmen. So interessierte er sich auch für Campbell. Rhetorisch versiert, brauchte sie nicht lange, ihn zu überzeugen. Er engagierte sie als Assistenzcoach. In der AHL war sie die erste Frau hinter der Bande, und mit ihr erreichte das Team zweimal den Playoff-Final.
Im ersten Jahr war der aktuelle ZSC-Stürmer Jesper Frödén mit dabei. «Ich hatte nie eine Frau als Coach gehabt und wusste nicht, was zu erwarten war», sagt der Schwede. «Sie war unglaublich, sehr smart und mit viel Hockeywissen. Sie kümmerte sich auf der Bank um die Stürmer und organisierte das Powerplay. Zudem leitete sie die Zusatztrainings und brachte mir da einiges bei.»
Frödén: «Das Geschlecht nahm ich nicht mehr wahr»
Es habe sich für ihn vom ersten Tag an ganz normal angefühlt, mit ihr zu arbeiten, sagt Frödén. «Das Geschlecht spielte für mich überhaupt keine Rolle. Ich nahm es gar nicht mehr wahr.» Er sei nicht überrascht, dass sie nun den NHL-Job bekommen habe. Zusammen mit Bylsma zog sie auf diese Saison hin nordwärts von Coachella nach Seattle. Der Club spielt seine vierte NHL-Saison und hofft, zum zweiten Mal das Playoff zu erreichen.
«Es spornt mich täglich an, zu wissen, dass ich Teil von etwas bin, das viel grösser ist als ich selbst», wird Campbell in einer Story für die offizielle NHL-Website zitiert. «Hoffentlich hilft das, dass jemand anderes eine offene Tür vorfindet und sie nicht aufstossen muss oder herausfinden muss, wie man sie aufschliesst.»
Söderholm ist jedenfalls überzeugt, dass Frauen in allen Bereichen des Eishockeys künftig wichtigere Rollen einnehmen werden. Und dass dies dem Machosport nur guttut.
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