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Interview mit Marco Balzano
«Italien wird zu einem riesigen Museum»

1950 versank das alte Dorf Graun im Reschensee.
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In Italien wird derzeit viel über Abwanderung diskutiert – Sie aber schreiben über Menschen, die gegen alle Widerstände ausharren.

Ich glaube, das ist eine der grossen Herausforderungen unserer Zeit: Zu bleiben, um den Ort zu verändern, an dem wir sind. Zu kämpfen für eine Landschaft, für die Rechte einer Gemeinschaft. Wenn wir es nicht tun, haben wir schon verloren. Ich habe ja selbst zwei Romane herausgebracht über Menschen, die gehen. Jetzt hatte ich wirklich das Bedürfnis, von der anderen Seite zu erzählen. Zu untersuchen, was es bedeutet, zu bleiben.

Und welche Antwort haben Sie gefunden?

Mich interessiert die Frage, nicht die Antwort. Es geht nicht darum, moralische oder historische Urteile zu fällen. Meine Geschichte spielt im Südtirol, im Dorf Graun, das im Zweiten Weltkrieg zum Spielball zwischen Faschisten und Nazis wurde. Was ich erfahren habe bei meinen Gesprächen mit Menschen von dort, war vor allem dies: Wer blieb, hat gelitten. Wer ging, ebenfalls. Das war das Drama der Bevölkerung: Es gab keine richtige Entscheidung.

Weil man so oder so Wesentliches verlor?

Genau. Wer sich für Adolf Hitler entschied, durfte weiterhin Deutsch sprechen, musste aber auswandern. Wer in Graun blieb, behielt sein Haus, verlor aber seine Sprache – weil die Faschisten das Italienische durchsetzten. Wir alle wissen, dass die wichtigsten Elemente von Freiheit die eigene Sprache, ein Zuhause und Arbeit sind. In Graun wurde diese Freiheit zerstört, genau wie heute in vielen Grenz- und Kriegsgebieten.

«Der Fortschritt – oder das, was als Fortschritt gilt – ist eben nicht für alle einer.»

In Graun kam nach dem Krieg eine weitere Katastrophe: Eine Staumauer wurde gebaut, das Dorf wurde unter Wasser gesetzt.

Auch da ist Graun eine Metapher für etwas, was heute an vielen Orten passiert. Der Fortschritt – oder das, was als Fortschritt gilt – ist eben nicht für alle einer. Er bedeutet auch die Zerstörung von Rechten, Landschaften, Wurzeln. Und es stellt sich wirklich die Frage, ob wir uns in unseren Demokratien solche Entwicklungen leisten können oder wollen.

Sie denken an die Linie für Hochgeschwindigkeitszüge, die derzeit im Piemont gebaut wird und das Susatal zerstört?

Am Tag, nachdem das Buch erschien, erhielt ich tatsächlich eine Einladung ins Susatal. Aber es gab auch Reaktionen aus anderen Ländern, aus der Türkei, Israel, Mexiko; von Menschen, die genau solche Entwicklungen erleben. Das Buch wurde in viele Sprachen übersetzt, die erste Anfrage kam aus China. Dort kennt man die Geschichte in ganz anderen Dimensionen: Mit der Drei-Schluchten-Talsperre wurden ganze Städte unter Wasser gesetzt, nicht nur zwei Dörfer wie im Südtirol.

Wie kamen Sie als Mailänder eigentlich auf das Thema Südtirol?

Per Zufall, ich habe mich verfahren. Und stand plötzlich an diesem See, aus dem der Kirchturm ragt. Das Bild hat mich getroffen wie ein Blitz. Ich habe die Arbeit an einem anderen Roman unterbrochen, um darüber zu schreiben.

Der Ort der Katastrophe ist heute eine Touristenattraktion.

Auch da will ich nicht moralisch werten. Ich stelle einfach fest: Es sitzen viele Leute dort am See, die diesen Kirchturm als ideales Sujet für ein Selfie nutzen. Sie sehen ihn als Souvenir, nicht als letztes Überbleibsel einer Zerstörung, die man mit Enteignungen und Sprengstoff vollzogen hat.

Ist das nicht das Schicksal vieler Bergregionen, auch ohne Staudamm? Die Bewohner gehen, die Touristen kommen?

Nicht nur in den Bergen. In Italien sieht man das überall, das ganze industrielle System wurde zerstört, man hat einen touristischen Ort geschaffen. Was das bedeutet, merkt man in Momenten der Krise, wie gerade jetzt. Viele Städte funktionieren nur noch als Kunststädte, ganz Süditalien ist ein Ferienort, an dem es abgesehen vom Tourismus wenig Arbeit gibt. Das Land wird zu einem riesigen Museum, einem riesigen Restaurant.

Eine ungute Entwicklung.

Es ist ein gigantischer politischer Fehler. Auf Kosten meiner Generation – ich hatte lange prekäre Arbeitsbedingungen, und viele meiner Altersgenossen haben Mühe, Jobs zu finden und eine Familie zu gründen. Die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch. Und die Generation meiner Kinder wird es noch viel härter treffen.

Dann finden Sie es falsch, wenn die italienische Regierung derzeit alle Anstrengungen unternimmt, um die Touristen zurückzugewinnen?

Sagen wir es so: Es ist der Beweis dafür, dass wir aus der Geschichte fast nie etwas lernen. Tragödien gehen vorbei, man macht weiter wie davor – und dichtet die Tragödie um zu etwas, das sie nicht war. Oder man verschweigt sie gleich ganz. Um noch einmal das Beispiel Südtirol zu nehmen: Was dort passiert ist, steht nicht in den italienischen Schulbüchern.

«Man präsentiert den Touristen eine verzauberte Welt.»

Warum nicht?

Es gibt eben viele Interessen an einem touristischen Südtirol. Die Region hat den Faschismus erlebt, den Nazismus – und der erste italienische Terrorismus war nicht jener der Brigate Rosse, sondern jener des «Befreiungsausschusses Südtirol», ab den frühen Sechzigern. Aber das wird alles totgeschwiegen, die Touristen sollen einen schönen, sauberen Ort vorfinden. Niemand soll belastet werden mit dem, was unter dem Wasser liegt.

Aber man muss nicht sehr tief tauchen, um auf eine gespaltene Gesellschaft zu stossen: Es gibt ja immer noch sprachlich getrennte Schulen, Kirchen, Sportvereine.

Die Touristen brauchen nicht einmal das zu bemerken. Man präsentiert ihnen eine verzauberte Welt.

Sie selbst leben in Mailand, einer Stadt, die derzeit eine massive Entzauberung erlebt: Der Wirtschaftsmotor wurde zum Corona-Problemfall.

Das ist nicht erstaunlich. Die Bevölkerungsdichte ist am höchsten hier, wir haben am meisten internationale Kontakte, gerade auch nach China. Auch sonst waren ja vor allem industrialisierte Zonen betroffen, der Veneto, das Piemont, die Emilia Romagna. Aber klar: Man hat in der Lombardei dramatische Fehler gemacht.

Die Region wird vom Lega-Politiker Attilio Fontana regiert.

Ich halte nichts von der Lega, aber hier geht es nicht um Parteipolitik. Auch der Veneto wird von einem Legisten regiert, von Luca Zaia – und der hat einen guten Job gemacht. Entscheidend ist, dass wir etwas lernen aus der Krise. Dass wir in die Schulen investieren, damit eine Generation nachwächst, die schnell auf neue Gegebenheiten reagieren kann.

Also lernen aus der Krise?

Die Rhetorik, dass wir alle besser aus der Krise herauskommen, überlasse ich gern den professionellen Politikern. Mir reicht es schon, wenn wir überhaupt herauskommen.