Sieg nach VerlängerungItalien und der böse Wolf
Mit viel mehr Mühe als erwartet die Viertelfinals erreicht: Die Squadra Azzurra musste gegen Österreich härter kämpfen, als ihr lieb war.
Auch Leidensfähigkeit ist eine fussballerische Tugend, diese Zähheit in der Widrigkeit, die Erduldung eines Siegs. Italien ist im Viertelfinal, und der ganze Hype um ihr schönes, federleichtes Spiel aus der Vorrunde ist fürs Erste verflogen. Eine österreichische Sturmböe, und weg war die Leichtigkeit. «Mit dem Herz im Hals» schreibt die römische Zeitung «Corriere dello Sport», man sei dem Wolf im Wald begegnet. Der Himmel habe geholfen, dem Himmel sei Dank. Viel mehr Lob an die Österreicher geht wohl nicht. Es muss gleich noch mehr von der Anrufung des Überweltlichen berichtet werden, aber zunächst nochmal zur Leidensfähigkeit der Azzurri im Londoner Wembley.
Die Italiener schauen diese EM auf Rai und auf Sky Italia. Auf Sky kommentiert ein berühmtes Duo die Spiele der Nazionale. Einen kennt die Welt: Beppe Bergomi, ein Signore von einem Innenverteidiger, heute 57, Mailänder und eine Karriere bei Inter, einst 81 Länderspiele. Den anderen kennen vor allem die Italiener: Fabio Caressa. Bergomi gibt den Experten. Und Reporter Caressa den Schwätzer. Pro Spiel verwechselt Caressa im Schnitt etwa zehn Mal den Namen eines Spielers. Der österreichische Mittelfeldspieler Florian Grillitsch zum Beispiel war für Caressa noch ein paar Mal am Ball, da stand er schon lange nicht mehr auf dem Platz. Auch die Azzurri verwechselt er.
Das Spiel mit dem bösen Wolf
Caressa hat Standards, zum Spielbeginn zum Beispiel hält er immer einen kleinen Monolog, den er sich vorher aufschreibt, er ist nie arm an einfachem Pathos. Nach dem Pausenpfiff sagt er: «Der Schiedsrichter schickt alle in die Kabine für einen heissen Tee.» Und zum Spielschuss: «Der Schiedsrichter sagt, es reiche jetzt.» Nicht ab und zu. Immer, immer. Man muss das schon hören wollen, zumal wenn das Spiel zusätzlich noch auf einem anderen Kanal läuft. Doch im Netz gibt es herrliche Parodien auf das Duo von Sky, die sind so gut, dass eben auch das Original mit der Zeit Kult wurde.
Caressa und der gute Bergomi kommentierten also auch das Spiel im Wald mit dem bösen Wolf. Die erste Halbzeit ging noch ganz gut, die Italiener griffen an: 39 Offensivaktionen gegen 11, und 11 Torschüsse gegen einen der Österreicher. Man dachte sich, das kommt schon, muss, ist ja Österreich. Die mochten Franz Klammer und Niki Lauda gehabt haben, die wunderbare Sissi. Man kennt sich, man hat sich schon in epischen Schlachten gemessen, über Grenzverläufe gestritten, Nachbarsgeschichten eben. Aber im Fussball?
Nach dem Tee war dann alles anders, und die wohlig sitzende Gewissheit aus der locker überflogenen Vorrunde implodierte wie ein schlecht abgemischtes Soufflé. Caressa in der 69. Minute: «Wir leiden schrecklich.» Caressa in der 75. Minute zu Bergomi und der versammelten Nation: «Beppe, was wir doch leiden heute Abend!» Bergomi in der 79.: «Italien hat den Kopf verloren, mit jeder Minute werden wir nervöser.» Caressa in der 86. Minute: «Und wir leiden weiter. Man sieht unseren Spielern die Angst ins Gesicht geschrieben.» Caressa in der 89. Minute: «Eine lange, durchlittene Nacht ist das, Beppe.» Caressa in der Nachspielzeit vor der Verlängerung: «Wir leiden ganz fürchterlich.»
«Wer siegen will, muss leiden können»
Ein Crescendo, eine einzige Verneigung vor dem Gegner, dem bisher ersten der Italiener in diesem Turnier, der sie hoch presste, beherzt und konzertiert, ähnlich teamstark wie die Azzurri selbst. Dann verstieg sich Caressa zu einem Geistesblitz: «Es ist wie im richtigen Leben», sagte er. «Wer siegen will, muss leiden können.» Vielleicht doch besser die schläfrige Rai?
In der Zwischenzeit hatte Italien den alten Rekord von Dino Zoff geschlagen, 47 Jahre hatte der gehalten: 1143 Minuten ohne Gegentor. Am Ende werden es 1168 sein. Gianluigi Donnarumma, die Nummer 1 im Tor, kann sich den zwar nicht allein zuschreiben: Die Nummern 2, 3 und 4 auf der Position haben auch mit ein paar gegentorlosen Minuten mitgeholfen, aber immerhin: Es gibt eine neue Bestmarke, der Druck ist weg. So ging man in die Verlängerung.
Caressa und Bergomi hätten Wechsel anraten können, taktische Justierungen – sie waren aber nun mal erstarrt im Leiden beim Zuschauen. Das hatte auch damit zu tun, dass Marco Verratti, der bekannteste Namen in einer Mannschaft von Namenlosen, im Mittelfeld zwar oft und formvollendet um seine eigene Achse schwirrte, aber kaum etwas nach vorne bewegte. Überhaupt die ganze Schaltzentrale: erstaunlich platt und langsam, viel weniger direkt als in den ersten Spielen. Für Aufregung sorgten nur die schnellen Flügelläufer, einer vor allem: Leonardo Spinazzola, ein Umbrer, 28, der für die AS Roma spielt und dort nach dieser EM wohl schwer zu halten sein wird. «Spina» wurde nun in drei bestrittenen Turnierspielen schon zum zweiten Mal von der Uefa zum «Star of the match» gewählt.
Volles Packung des Selbstvertrauens
Die Wende gelang dann aber dank der Einwechslung von Glauben und Kirche: Federico «Fede» Chiesa trägt in seinem Namen gleich zwei Komponenten, Glauben und Kirche eben, die Italiens Zeitungsmacher zu Sprachspielereien verleiten. «Fedes Glaube», titelte diesmal ein Blatt, so etwas wie ein sprachlicher Pleonasmus. Federico Chiesa, Sohn von Enrico, Nationalspieler vor ihm und Torschütze an der EM vor 25 Jahren, damals schon in England, ist bei der Fiorentina gross geworden und spielt nun seit einer Saison bei Juventus Turin. Es war eine gute Saison, mit etlichen erlösenden Toren. Für Roberto Mancini aber, den Commissario Tecnico, war er im Nationalteam plötzlich nicht mehr erste Wahl. Der 23-jährige Chiesa musste Domenico Berardi Platz machen, was ihn im nicht ganz schmal bemessenen Stolz traf. In seinem Tor, in dieser schnellen Sequenz: Kontrolle, rechts, links, war alles drin – die volle Packung eines natürlich angeborenen Selbstvertrauens. «Es ist nie zu spät, in ein Spiel einzugreifen und ein Tor zu erzielen», sagte er später.
Nach der Begegnung gegen Wales hatte man Chiesa Englisch reden hören, perfekt – er hat in Florenz die internationale Schule besucht. Er wolle, sagte Chiesa einmal, schliesslich eine Alternative haben, wenn das mit dem Fussball nichts werde. Nun, es wird wohl was. Auch der zweite Torschütze der Italiener, Matteo Pessina, kam von der Bank. Auch ihm, einem «bravo ragazzo», einem guten Jungen, zollt das Land gerne Tribut für sein Leben neben dem Fussballplatz: Pessina von Atalanta Bergamo, 24, nunmehr 4 Tore in acht Länderspielen, eine beachtliche Quote für einen Mittelfeldspieler, studiert Wirtschaftswissenschaften an einer Universität in Rom. Und diese Begebenheit aus dem wahren Leben kommt auch bei Caressa und Bergomi nie zu kurz.
Mancini: «Solche Siege tun gut»
Nun, die zwei Tore von der Ersatzbank gereichten dann doch nicht für ein Ende des Leidens: Der Wolf im Wald, er blieb eine ständige Gefahr. «Gerissen hat er uns nicht», schreibt «La Repubblica». Mancini, der nun natürlich wieder alles richtig gemacht hat, weil er das B-Team immer bei Laune hält und keinen aus dem vermeintlichen A-Team privilegiert behandelt, sagte nach dem Spiel: «Dieses Leiden wird uns noch sehr nützlich sein im weiteren Verlauf des Turniers. Solche Siege tun gut.» Sie helfen, die Füsse wieder auf den Boden zu setzen, Abheben war viel einfacher gewesen. Der Viertelfinal werde nun vielleicht sogar einfacher, sagte Mancini noch – egal, wer dann Gegner ist. Jedenfalls reise man gelassen nach München. Mit dem Herz in der Hand.
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