UNO-HilfswerkKritik an UNRWA trifft auch die Schweiz – wie reagiert Bern?
Israel setzt die Institution für Palästina-Flüchtlinge im Gazastreifen mit seinem Schweizer Chef immer stärker unter Druck. Aussenpolitiker nehmen Stellung.
Die Verbindungen zwischen der Schweiz und dem UNO-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) sind eng. Mit Yves Besson (UNO-Diplomat), Pierre Krähenbühl (IKRK-Generalsekretär) und Philippe Lazzarini (Ex-IKRK) standen in den vergangenen Jahren gleich drei Schweizer an der UNRWA-Spitze. Das Hilfswerk stand immer wieder in der Kritik, ist nach dem Hamas-Angriff auf Israel nun aber existenziell bedroht.
Gemäss israelischer Darstellung waren zwölf UNRWA-Mitarbeiter am Angriff vom 7. Oktober beteiligt. Das israelische Militär hat zudem kommuniziert, man habe in einem Bunker direkt unter dem UNRWA-Hauptquartier in Gaza eine Hamas-Datenzentrale entdeckt. Viele Geberstaaten, darunter Deutschland, haben ihre finanzielle Unterstützung bis auf weiteres sistiert. Den Druck bekommt auch Philippe Lazzarini zu spüren. Dieser verbleibt aber als Generalkommissar an der Spitze des Hilfswerks und betont weiterhin die Wichtigkeit der Institution: am Montag beim Treffen der Entwicklungsminister der EU-Staaten in Brüssel und am Dienstag beim Krisentreffen am UNO-Sitz in Genf.
«Wir hatten in der Vergangenheit mehrere Diskussionen mit Israel über mögliche Tunnel unter UNRWA-Gebäuden», sagte Lazzarini am Donnerstag in einem Interview mit der NZZ. Es sei unmöglich, die Informationen selbst zu überprüfen. «Das UNRWA-Hauptquartier in Gaza ist jetzt eher ein israelisches Militärgelände», so Lazzarini. Er beteuert: «Wann immer wir Anschuldigungen erhalten, überprüfen wir, ob sie wahr sind.» Für den Neuenburger ist klar: «Wir befinden uns heute in einer existenziellen Krise. Es geht um die Auflösung der Agentur.» Doch Lazzarini warnt: «Eine Abschaffung der UNRWA, wie sie heute von einigen angestrebt wird, würde dem palästinensischen Volk das Gefühl geben, verraten worden zu sein.» Wenn die Militäroperation beendet sei, «werden wir es allein im Gazastreifen mit mehr als einer halben Million Mädchen und Jungen zu tun haben, die zutiefst traumatisiert sind», so Lazzarini.
Angesichts der neuesten Entwicklungen und Diskussionen rund um die UNRWA stellt sich die Frage, ob und wie sich die Schweiz dazu stellt. Die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats will sich am 25. März mit Philippe Lazzarini direkt austauschen. An der Einladung halte man fest, sagt der Kommissionspräsident, FDP-Nationalrat Laurent Wehrli. Auf den im Dezember getroffenen Entscheid, dass das Aussendepartement den Kredit für humanitäre Aktionen um 10 Millionen Franken kürzen müsse, komme man aber nicht zurück.
Wo der Bundesrat die Gelder einsparen will, ob beim UNO-Palästinenserhilfswerk UNRWA oder anderswo, liess das Parlament offen. Man erwarte nun, dass der Bundesrat seinem Auftrag nachkomme und schriftlich über den aktuellen und künftigen Einsatz von Hilfsgeldern im Nahen Osten Rechenschaft ablege, so Wehrli. Er geht zudem davon aus, dass in der in zwei Wochen beginnenden Frühlingssession Ratskolleginnen und -kollegen zum Engagement der Schweiz im Nahen Osten zahlreiche Vorstösse einreichen werden.
Für den Genfer SP-Ständerat Carlo Sommaruga ist indes klar: «Eine Mehrheit der UNO-Mitgliedsstaaten unterstützt die UNRWA weiter, darunter Staaten wie Norwegen, Irland und Holland, die aus Schweizer Sicht als gleich gesinnt gelten.» Die Schweiz könne es sich nicht leisten, abseits zu stehen. Bei der Palästinenserhilfe durch die UNRWA fehlten schlicht die Alternativen, so Sommaruga.
UNRWA im Neutralitätscheck
François Nordmann, ehemaliger Botschafter und heute Kolumnist der Zeitung «Le Temps», geht davon aus, dass Bundesrat und Parlament einen Untersuchungsbericht der ehemaligen französischen Aussenministerin Catherine Colonna zur UNRWA abwarten und in die Entscheidfindung miteinbeziehen. UNO-Generalsekretär António Guterres hat Colonna auf Ersuchen von Philippe Lazzarini hin mandatiert, die Vorwürfe der israelischen Seite gegen das UNO-Hilfswerk zu überprüfen.
Guterres will unter anderem eine Antwort auf die Frage, ob das Hilfswerk und sein Generalkommissar alles in seiner Macht stehende tun, um seine Neutralität zu gewährleisten. Das Team um Colonna nimmt seine Arbeit diese Woche auf, soll die Untersuchung Ende April abschliessen und auch der Öffentlichkeit zugänglich machen. François Nordmann sagt: «Es wäre unüblich, wenn Guterres Colonna nicht in Absprache mit den UNRWA-Geldgeber, insbesondere der USA, eingesetzt hätte.» Colonna werde mitunter Vorschläge bringen müssen, wer das Hilfswerk künftig beaufsichtige – und wie. Aussenpolitiker Wehrli signalisiert, Colonnas Bericht werde man sich in Bern sicher ansehen und in Überlegungen miteinbeziehen, obwohl man selbstredend nicht der Besteller des Berichts sei.
Im Eidgenössischen Departement für Auswärtige Angelegenheiten (EDA) geht man davon aus, «dass die UNO-Untersuchung die schweren Vorwürfe vollständig aufklärt», wie EDA-Chefsprecher Michael Steiner auf Anfrage mitteilt. «Es erfolgen keine Zahlungen an das UNRWA, bevor mehr Informationen zu den schweren Vorwürfen vorliegen und die Aussenpolitischen Kommissionen konsultiert wurden», so Steiner. Diese Konsultationen seien frühestens für das zweite Quartal 2024 vorgesehen. Von einer «Suspendierung von Hilfsgeldern» will man im EDA im Moment dennoch nicht reden.
Israels UNO-Botschafter in Genf, Meirav Eilon Shahar, attackierte die UNRWA derweil weiter. Bei einer Krisensitzung in Genf griff er Philippe Lazzarini an. Shahar verschickte seine Intervention per E-Mail. Darin heisst es: Das Hilfswerk habe kürzlich zu Unrecht behauptet, dass humanitäre Lebensmittellieferungen in einem israelischen Hafen festsässen. Ein Grossteil der Lieferung sei durch das UNO-Welternährungsprogramm verteilt worden. «Die Verbreitung falscher Anschuldigungen ist einfach inakzeptabel», kritisiert Israels Botschafter.
Er beschuldigte auch Lazzarini persönlich, Falschinformationen zu verbreiten. Die UNRWA habe «Terroristen in ihren Reihen», habe «Tunnel unter ihrem Hauptsitz», erhalte «den Konflikt aufrecht» und sei «zu einem politischen Instrument für die Hamas geworden», so Israels Botschafter. Sie sei «Teil des Problems, nicht der Lösung».
Aussenpolitiker Sommaruga gefallen die israelischen Attacken auf Lazzarini nicht. Er ruft das EDA dazu auf, «den UNRWA-Generalkommissar als höchsten Schweizer Vertreter bei der UNO nach dem Vorbild von Norwegen und der EU stärker zu unterstützen und sich vom proisraelischen Lobbyismus weniger vereinnahmen zu lassen». Lazzarini will die Aufsicht über das Hilfswerk verbessern und verlangte auch, dass die externen Ermittlungen den mutmasslichen Hamas-Tunneln unter UNRWA-Gebäuden nachgehen.
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