Israelische Offensive im Süden Gazas«Es ist chaotisch» – Tausende auf der Flucht, ohne klares Ziel
Israelische Truppen dringen immer tiefer nach Rafah vor. Für die palästinensische Bevölkerung wird das Essen knapp, Hilfe kommt kaum noch an.
Für Anwar Saleh ist es die dritte Flucht in diesem Krieg. Am Anfang hatte er noch ein Auto, in das er seine Frau und seine Kinder setzen konnte, als sie am 13. Oktober von Gaza-Stadt nach Khan Younis flohen. Ende des Jahres mussten sie weiter nach Süden, in die Grenzstadt Rafah, weil es das israelische Militär so wollte. Rafah war damals eine Sicherheitszone, in die schliesslich etwa eine Million Palästinenser flüchteten. Heute ist es das nächste Angriffsziel, seit Monaten wird darüber geredet.
Als die Israelis vor einer Woche Flugblätter abwarfen, die vor einem Angriff warnen, machte sich Anwar Saleh, der hier nicht mit echtem Namen genannt werden will, mit seiner Familie wieder auf den Weg Richtung Norden. Sein Auto ist wie das vieler anderer Geflohener längst zerstört, trotzdem stauten sich in den Strassen die Menschen. Zehntausende versuchten, sich in Sicherheit zu bringen.
Aber Sicherheit, die gebe es nicht in Gaza, berichtet Anwar Saleh nun per Sprachnachricht. Er ist in die küstennahe Stadt Deir al-Balah geflohen, rund 20 Kilometer nördlich von Rafah; seine Stimme ist kaum zu verstehen, so viele Menschen lärmen um ihn herum. Etwa 350’000 Menschen hätten Rafah innerhalb weniger Tage verlassen, geben die Vereinten Nationen an. Viele von ihnen haben nur Planen und ein paar Decken dabei, nun irren sie umher auf der Suche nach einem Unterschlupf.
Kaum sauberes Wasser
Israel hat ein Gebiet entlang der Küste zur sicheren Zone erklärt, doch die Region ist zum grössten Teil schon völlig überfüllt. «Es ist chaotisch», sagt Saleh. Der Akku seines Telefons neige sich genauso dem Ende zu wie das Guthaben auf seiner SIM-Karte und das Essen für die Familie. Es gebe kaum sauberes Wasser, kaum Toiletten, alles werde immer nur noch schlimmer, sagt er. Saleh hat schon Dutzende Verwandte verloren.
Seit Wochen warnen grosse Teile der Welt Israel vor einer neuen Offensive, von der Ministerpräsident Benjamin Netanyahu ebenso lang sagt, sie stünde kurz bevor. Am Wochenende dachten viele in Rafah, jetzt sei es so weit. Israelische Bomber flogen heftige Angriffe, Dutzende Zivilisten sollen ums Leben gekommen sein. Am Montag schickte die israelische Armee dann auf die Telefone vieler Palästinenser erneut Sprach- und Textnachrichten, die zur Flucht aufforderten. Wieder brachen Tausende auf, ohne klares Ziel.
Aus israelischer Sicht dürfte die Einnahme von Rafah zwingend sein. Nur so liessen sich letzte Hamas-Einheiten zerschlagen und die Hilfslieferungen über die Grenze aus Ägypten kontrollieren. Beängstigend, was das für die Menschen dort bedeuten würde.
Am Rand einer Hungersnot
Der UNO-Menschenrechtsbeauftragte Volker Türk erinnerte einmal mehr daran, dass ein israelischer Grossangriff auf Rafah «nicht stattfinden kann», weil er unvereinbar mit dem Völkerrecht sei. Er warnte, eine gross angelegte Offensive könne «katastrophale Auswirkungen haben …, einschliesslich der Möglichkeit weiterer grausamer Verbrechen». Auch der britische Aussenminister David Cameron sagte, es wäre falsch, wenn Israel «ohne einen Plan zum Schutz der Menschen» in Rafah eine Grossoffensive vornehmen würde.
Diesen Plan gibt es bisher nicht, im Gegenteil, die Versorgung der Menschen wird immer schlechter. Schon vor einem Monat standen Teile des Gazastreifens am Rand einer Hungersnot. Die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock mahnte Hilfe an, «es darf keine Ausreden mehr geben», sagte sie damals. Israel erklärte sich bereit, einen weiteren Grenzübergang für humanitäre Hilfe zu öffnen.
Um eine Hungersnot zu verhindern, müssten jeden Tag etwa 300 Lastwagen mit Hilfsgütern nach Gaza kommen, geben die Vereinten Nationen an. Doch in der vergangenen Woche seien es täglich nur sechs Lkws gewesen. Die israelische Regierung hat nach eigenen Angaben im Norden des Gazastreifens insgesamt drei Zugänge geöffnet, durch den neuesten, Western Erez, seien am Sonntag «Dutzende» Hilfstransporte des World Food Programm nach Gaza gelangt. UNO-Mitarbeiter sagen dagegen, mehr als 100 Lkws seien bisher nicht durch die drei neuen Zugänge gekommen. Das Flüchtlingshilfswerk UNRWA darf die Übergänge im Norden nicht benutzen.
Die Hamas ist wieder aktiv
Die Zugänge Kerem Shalom und Rafah, durch die fast alle Lkws nach Gaza gelangen, sind aufgrund der israelischen Offensive seit Tagen geschlossen. In Rafah hat auf palästinensischer Seite nun Israel die Kontrolle übernommen, in Kerem Shalom starben vier israelische Soldaten in der vergangenen Woche nach einem Raketenangriff der Hamas. Die Times of Israel berichtete unter Berufung auf palästinensische Medien und den israelischen Sender Kan, am Montag sei in Rafah ein UNO-Fahrzeug unter Beschuss geraten, den Informationen nach kam der Fahrer ums Leben, ein UNO-Mitarbeiter sei verletzt worden.
Die Kämpfe in Gaza sind so heftig wie seit vielen Wochen nicht mehr; der geplante Angriff auf Rafah war aus Sicht von Netanyahu und seiner Regierung lange Zeit der letzte grosse Schlag, den es gegen die Hamas zu führen galt. Mittlerweile tobt der Krieg aber auch wieder im Norden, wo Israel schon vor Monaten verkündet hatte, die Strukturen der Hamas zerschlagen zu haben. Ein israelischer Armeesprecher sagte, es gebe «Versuche der Hamas, ihre militärischen Fähigkeiten wieder aufzubauen».
Anfang Februar hatte Netanyahu behauptet, drei Viertel aller Hamas-Bataillone in Gaza zerstört zu haben; Anfang April behauptete er, «nur einen Schritt» vom Sieg entfernt zu sein. Dass in Gebieten, aus denen sich Israel bereits zurückgezogen hatte, nun wieder heftig gekämpft wird, zeigt, wie verfahren die Lage ist.
US-Aussenminister Antony Blinken warnte am Sonntag davor, dass israelische «Siege» möglicherweise nicht «nachhaltig» sein und «Chaos, Anarchie und letztendlich wieder die Hamas» nach sich ziehen würden.
Es hört nie auf, befürchtet Anwar Saleh mittlerweile. Viele Menschen hätten sogar schon aufgehört, überhaupt noch über ihre Zukunft nachzudenken.
Fehler gefunden?Jetzt melden.