Griechenland im KlimawandelSantorini: Insel der Extreme
Auch die Postkarteninsel Santorini hat zunehmend mit Hitze, Trockenheit und Sommerstürmen zu kämpfen. Einheimische machen die Not zur Tugend – und setzen auf eine neue Art von Tourismus.
Es gibt diese Geschichte von der Erschaffung der Welt: Alle Steine, die dabei übrig blieben, wurden im Süden Griechenlands verteilt, auf der Kykladeninsel Santorini. Eigross die schwarzen, sie liegen schwer in der Hand. Dazwischen die weissen, leicht und porös wie ein Schwamm. Und dazu der Staub, rot und grau. Auf Santorini, die Griechen sagen auch Thira, nennen sie ihre harten Äcker aus Stein und Vulkanasche «Aspa». Das klingt nach Askese. Dieser Boden aber ist ein Wunder der Schöpfung.
Auf ihm gedeiht der Reichtum der Insel, in tiefwurzelnden Rebstöcken. Zur Bewässerung reicht den flach über der Erde kauernden Pflanzen gewöhnlich die Nachtfeuchte, die sich vor Sonnenuntergang übers Meer legt, als wattiges Etwas, und als salziger Morgentau auf Reben. Die Bauern flechten sie zu kunstvollen Körben, genannt «Kouloura», in der Grösse von Storchennestern, um sie vor den starken Winden zu schützen. Seit Jahrhunderten machen sie das hier so. Sie sagen, sie hätten die ältesten, durchgehend kultivierten Weinstöcke der Welt. Wer weiss das schon so genau? Santorini ist eine Insel der Extreme, der Übertreibungen auch.
Auf Santorini gibt es eine spezielle Zeitrechnung: vor und nach dem gewaltigen Vulkanausbruch um 1600 v. Chr. Die Katastrophe vernichtete eine ganze Zivilisation.
«Wir haben keine Ahnung, wie der Wein vor 3000 Jahren schmeckte», sagt die Winzerin Leto Paraskevopoulou. Auf der Insel gibt es eine spezielle Zeitrechnung: vor und nach dem gewaltigen Vulkanausbruch um 1600 vor Christus. Santorinis Urkatastrophe vernichtete eine ganze Zivilisation. Manche glauben, das sei der Untergang des von Platon beschriebenen mythischen Atlantis gewesen.
Leto Paraskevopoulou ist 29, kann also nicht einmal drei Jahrzehnte zurückblicken. Sie hat in Grossbritannien Biochemie studiert und führt das Weingut Gaia, das ihr Vater Yiannis 1994 gegründet hat. Der Vater kam aus Athen, hatte Önologie in Bordeaux studiert und gehörte zu den Pionieren einer neuen griechischen Winzergeneration, die auf Qualität statt auf Masse setzt. «Er hat das Potenzial der Insel erkannt, und ich bin die Erste aus unserer Familie, die hier lebt», erzählt die Winzerin.
In der alten Tomatenpüreefabrik wird heute Wein gemacht
Als ihr Vater anfing, gab es nur ein halbes Dutzend Weingüter auf der Insel, heute sind es 20. Denn aus der einheimischen Assyrtiko-Traube lässt sich ein Weisswein keltern, der so trocken ist wie der vulkanische Boden. Auf der Zunge aber bewirkt der Assyrtiko Aroma-Explosionen, die an Limette, Meersalz, Birne und Nuss erinnern. Er hat viel Säure und viel Alkohol. Die Preise schossen in den vergangenen Jahren in die Höhe, angetrieben von der Experimentierfreude der Winzer, die ihre Weine länger reifen lassen, in alten und neuen Eichenfässern oder auch fünf Jahre auf dem Meeresboden.
Und sie haben gute Geschichten: Als man die Trauben noch mit Füssen stampfte, sollen sie auf Santorini nachts auf den Beeren getanzt haben. So nannte man den Wein «Nachtarbeit», auf Griechisch «Nykteri». Wenn Leto Paraskevopoulou davon erzählt, fährt sie mit den Händen durch die Luft, als wolle sie ein paar Kellergeister verscheuchen. Ihr sind chemische Formeln wichtiger als Fabeln. Gepresst über Nacht wird die Tageslese für den «Nykteri» aber immer noch, für einen besonders fruchtig-frischen Wein.
In den vergangenen 15 Jahren registrierten die Meteorologen für das ohnehin staubtrockene Santorini bereits 35 Prozent weniger Regen.
Das Gaia-Gut liegt nur ein paar Meter von einem steinigen Strand entfernt; Tamarisken und Eukalyptusbäume geben Schatten. Die Kelterei ist in einer ehemaligen Tomatenpüreefabrik untergebracht, ein hoher Schlot erinnert daran. Tomatenpüree war einst ein wichtiges Exportgut der Insel, bis die sehr kleinen und sehr süssen Früchte nicht mehr konkurrenzfähig waren.
Wird es dem Wein irgendwann genauso ergehen? «Der Assyrtiko ist robust», meint die Winzerin. «Aber wir hatten bei der Ernte zuletzt einen heftigen Sturm mit Starkregen. So etwas kannten wir hier bisher nicht.» Experten sagen, der Klimawandel werde sich im Mittelmeerraum in extremen Wetterereignissen zeigen, steigenden Temperaturen und Trockenheit. In den vergangenen 15 Jahren registrierten die Meteorologen für das ohnehin staubtrockene Santorini bereits 35 Prozent weniger Regen.
Die Traubenlese in der Augusthitze an den niedrigen Weinstöcken ist eine Herausforderung. «Wir finden nicht mehr genug Leute dafür», sagt Paraskevopoulou. «Früher arbeiteten hier viele Albaner, heute studieren deren Kinder in Griechenland, sie sind keine Bauern mehr.»
Unzählige schmale Terrassen bedecken die steilen Inselhänge, ein Erbe von Jahrhunderten menschlicher Kraftanstrengung und ausgeklügelter Bodennutzung. Inzwischen werden fast nur noch die besser erreichbaren, flacheren Felder bewirtschaftet. Und der fruchtbare Vulkanboden ist hart umkämpft. Die Winzer haben eine mächtige Konkurrenz.
«Einst hat jede Familie ihren Hauswein gemacht, heute will jede ein Hotel», sagt Konstantina Argyriou, Önologin bei der Winzerkooperative Santo Wines und auch erst 32 Jahre alt. Junge Frauen sind eine neue Komponente in dieser griechischen Traditionsbranche. «Wenn ich sage, ich mache Wein, dann glauben mir das viele Leute erst einmal nicht», sagt sie. Die Kooperative hat die grösste Kelterei auf der Insel, aber sie hatte schon Mühe, die Stahltanks zu füllen. Die Rebflächen schwinden.
Oia ist neben der Athener Akropolis das am meisten fotografierte Stück Griechenland, gemessen an der Menge der Social-Media-Uploads.
Eine kurze Fahrt über die Insel zeigt: Häuser und Hotels rücken direkt an Weinfelder heran. Zwar verbietet ein Gesetz, dort zu bauen, wo es Weinstöcke gibt. Bevor es vor zehn Jahren in Kraft trat, haben einige Bauern ihre alten Weinstöcke herausgerissen, um Bauland zu gewinnen. Die Winzer sind auf die anderen Bauern angewiesen, sie haben selbst nicht genug eigene Felder. Die Rebfläche auf Santorini betrug 1997 noch 1500 Hektaren. Heute sind es 1200, um die mehr als dreimal so viele Winzer konkurrieren.
Die Kooperative bewirtschaftet ein Restaurant am steilen Kraterrand. Der Blick aufs tiefblaue Meer ist überwältigend. Fast jeden Tag haben sie hier Hochzeiten auf den in den Berg gestaffelten Terrassen, Sonnenuntergangspanorama inklusive. Der Vulkan hat die Sichelform der Insel geschaffen, die zerklüftete Steilküste aus schwarzem und rotem Lavagestein, bis zu 350 Meter hoch. Es ist der über dem Meer sichtbare Teil des Vulkankraters.
Bitte keine Drohnen!
An der Nordspitze liegt das Dorf Oia. Von Weitem sieht es aus, als sei ein riesiger Möwenschwarm auf den schwarzen Klippen gelandet. In Oia – gesprochen Ia – sind fast alle Häuser kykladenweiss gestrichen, ein paar Kirchenkuppeln blau. Oia ist neben der Athener Akropolis das am meisten fotografierte Stück Griechenland, gemessen an der Menge der Social-Media-Uploads. Die Einwohner-Initiative «Save Oia», «Rettet Oia», teilt das mit – auf Facebook. Sie hat Schilder in den engen Gassen angebracht, die warnen, das pittoreske Dorf auch noch aus der Luft abzulichten: Drohnen verboten, es drohen Strafen. Das scheint zu wirken.
Für keines der Dauerprobleme von Santorini – Abfall, Wasser, Energie – gibt es bislang eine Lösung, über die sich gute Geschichten erzählen liessen.
Es ist eine private Notwehr. Denn Oias weltberühmte Schönheit zieht in der offiziell nun auf acht Monate verlängerten Saison Touristen in solch grosser Zahl an, dass vor jedem Sonnenuntergang kaum ein Durchkommen ist auf Treppen und Terrassen – und es wird weitergebaut.
Santorinis Attraktivität ist für viele auf der einst bitterarmen Insel ein Segen, aber sie ist auch eine Art Fluch, denn für keines der Dauerprobleme – Abfall, Wasser, Energie – gibt es bislang eine Lösung, über die sich gute Geschichten erzählen liessen. Die griechische Regierung freut sich auch dieses Jahr wieder über eine aussergewöhnlich starke Saison auf den berühmtesten Inseln der Kykladen, auf Mykonos und Santorini: Schon bis August kamen fast 40 Prozent mehr Gäste als im Vor-Pandemie-Jahr 2019. Es sind so viele, dass sogar die investitionsfreudige konservative Regierung in Athen unlängst warnte, für Santorini und Mykonos könnte «das Limit» erreicht sein.
Unter der Vulkanasche liegt eine ganze Stadt vergraben
Für Loukas Bellonias ist es das schon lange. Der Ingenieur hat als Treffpunkt ein altes «Kafenio» gewählt, in Mesaria, einem Ort in der Inselmitte. Solch traditionelle Cafés gibt es hier nicht mehr viele. Bellonias’ Familie ist eng mit der Insel verbunden: Sein Grossvater hat die Stiftung Bellonio gegründet, sie unterhält eine öffentliche Bibliothek. Enkel Loukas klagt, Lehrer, die auf die Insel versetzt würden, fänden keine bezahlbare Wohnung, weil es so viele Airbnb-Betten gibt.
Bellonias ist 40, Vater und Realist. Er glaubt nicht, dass es möglich sei, auf Santorini den Bau neuer Hotels zu verbieten. «Aber wir brauchen einen guten Aktionsplan.» So sollten an einem Tag nur zwei Kreuzfahrtschiffe in der Bucht ankern dürfen, statt sechs, sieben oder mehr. Mit Tausenden Passagieren, die in Bussen vom Hafen abgeholt werden, für ein paar Stunden Santorini. «Aber die lokale Verwaltung kann wenig ändern, das kann nur die Regierung.»
Bellonias wünscht sich, dass die Gäste auf seiner Insel mehr suchen und entdecken als nur Sonnenuntergänge in Oia: Wanderrouten zum Beispiel, die einfallsreiche Gastronomie, die ausgezeichneten Weine. Oder die Ausgrabungen in Akrotiri, ganz im Süden der Insel. Die Vulkanasche hat in Akrotiri eine ganze Stadt bewahrt, nur 10 Prozent sind bislang ausgegraben.
Aber das reicht schon, um zu staunen: Über mindestens 3500 Jahre alte mehrstöckige Steinhäuser mit ausgeklügelten Sanitäranlagen, Wasser- und Abwasserrohren. Weil man bislang keine menschlichen Gebeine fand, gehen die Experten davon aus, dass Erdbeben dem Vulkanausbruch vorangingen; so waren die Bewohner gewarnt und konnten aus der Stadt fliehen. Über ihr weiteres Schicksal ist nichts bekannt.
Die Archäologen haben die Splitter grossartiger Fresken zusammengepuzzelt: ein elegantes Boot mit vielen Ruderern, ein junger Mann mit zwei Fischbündeln in den Händen. Fisch, ob gegrillt oder gekocht, eingelegt in Essig oder Salz, darf bis heute auf der Insel auf keinem Speisezettel fehlen. Auch das weiss man: Es gab schon damals Handel und Austausch mit anderen Orten im und am Mittelmeer.
Bis ins 12. Jahrhundert vor Christus war Santorini eine verlassene Steinwüste. Dann trauten sich neue Siedler, die fruchtbare Vulkanerde zu bestellen. Vermutlich waren sie Phönizier, also aus dem Gebiet des heutigen Libanon, Syrien und Israel. Sie brachten die Kunst des Weinmachens und Rebstöcke mit. Wein wurde dann eines der begehrten Handelsgüter.
Ein Süsswein aus sonnengetrockneten Beeren wurde als Vin Santo, Wein aus Santorini, berühmt. Noch heute heisst er Vinsanto. Er schmeckt nach Walnuss, Tabak, Aprikose, Bergamotte. Die Winzer sagen, er sei ewig haltbar. Estate Argyros, eines der traditionsreichsten Güter, bietet einen 16 Jahre im Fass gealterten Vinsanto an. Im Keller haben sie auch einen von 1974 – ein unvergessliches Jahr, weil da in Griechenland die siebenjährige Diktatur der Obristen zusammenbrach.
Leto Paraskevopoulou, die damals noch nicht geboren war, sagt: «Wer Party machen oder nur an den Strand will, soll nicht nach Santorini kommen.» Dafür gebe es andere Inseln. Dann sagt sie noch: «Ich habe da so eine Idee, warum nicht Touristen zur Weinernte einladen?»
Ja, warum eigentlich nicht.
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