Hinduismus in IndienFrauen, die trauen – Hindu-Priesterinnen lösen eine Revolution aus
Priester ist in Indien traditionell ein reiner Männerberuf. Dass nun auch Nandini und ihre Kolleginnen Hochzeiten zelebrieren, ist unerhört – und sie haben Erfolg.

Tod und Leben füllen Nandinis Tage, in diesem Fall einen Donnerstag im drückend heissen Kalkutta. Morgens hat die Hindu-Priesterin eine Andacht für die Familie eines Gestorbenen gehalten, abends führt sie die Zeremonien bei einer Hochzeit durch. Die tiefe Trauer und das grösste Glück, sie gehören zu ihrem Arbeitsalltag, seitdem sie ihren Beruf als Lehrerin aufgegeben hat und eine der ersten Priesterinnen Indiens geworden ist. «Es gab einige wenige vor mir», sagt Nandini, «aber ich stand schnell im Rampenlicht, weil ich viel rede und Interviews gebe.» Sie lacht glockenhell.
Das tut sie häufig, obwohl es nicht viel zu lachen gab, als sie 2010 anfing. Priester ist in Indien ein reiner Männerberuf, er wird obendrein durch das Kastensystem quasi vererbt. Wer einen Hindu-Priester trifft, kann davon ausgehen, dass sein Vater und sein Grossvater denselben Beruf hatten. Nandini ist also eine Pionierin.
Für einmal eine Liebesheirat
Mit drei ihrer Kolleginnen fährt sie durch den Sturzregen in den Vorort Andul, in das Haus einer bengalischen Familie, um ein junges Paar zu trauen. Es sind etwa 300 Leute geladen. Der Eingangsbereich blinkt wie eine Disco, die Gänge, drei Stockwerke und die Terrasse wurden mit Stoff in Rot und Rosatönen verkleidet. Auch Nandini und ihre Kolleginnen tragen safranfarbene, schillernde Saris, «normal sind Priester in Weiss oder Grau – wir sind bunt!», sagt sie. Viele Gäste sind nass geworden, doch die Stimmung ist heiter, festlich, Braut und Bräutigam strahlen einträchtig. Für diejenigen Gäste, die nicht mehr in den Raum passen, wird die Zeremonie auf drei grossen Flachbildschirmen im Haus übertragen.

Anuradha Ghosh, die Braut, wollte eine klassische Trauung, aber keine konventionelle. Es handelt sich um eine Liebesheirat, eine Seltenheit in Indien. Sie und ihr Bräutigam, Upal De, kennen sich seit sieben Jahren, «ich weiss, worauf ich mich einlasse», sagt sie. Etwa eineinhalb Stunden dauert das Ritual, «traditionell eher drei Stunden», sagt Nandini, «aber diese Zeit wollen sich moderne Paare nicht mehr nehmen». Man kann die Zeremonie auch auf Hindi oder Englisch haben. Die Priesterinnen sind flexibel. Mehr als 20 offizielle Landessprachen gibt es in Indien, viele Ethnien, Religionen, Überzeugungen. Nandini und ihre Kolleginnen wollen für alle da sein.
Priester kommen üblicherweise aus der Kaste der Brahmanen, auch Nandini wurde als Brahmanin geboren. Offiziell ist die Kastendiskriminierung in Indien verboten, im Alltag aber darf sich ein Brahmane Dinge herausnehmen, die sich ein Dalit, ein Unberührbarer, nie trauen würde. Der Status lässt sich am Namen ablesen. Als Dr. Nandini Bhowmik war die heute 62-Jährige früher Professorin für Sanskrit und Indologie an der Jadavpur-Universität in Kalkutta. Mittlerweile hat sie diesen Namen aber abgelegt, um Kolleginnen zu schützen, die weniger privilegiert sind.
Indische Hochzeiten sind eine grosse Sache für die gesamte Familie. Die Eltern fangen meistens schon bei der Geburt der Tochter an zu sparen, auch die Gäste geben viel Geld aus, kaufen sich neue Kleidung, Schmuck, schliessen im Rahmen der dreitägigen Feier Freundschaften. Entsprechend viel hängt am Gelingen der Festlichkeiten. Nandini nimmt ihren Job nicht leicht, bereitet sich tagelang akribisch vor, liest sich ein, legt ein Programm fest. Die Braut trägt einen rot-goldenen Sari, ein grosser Nasenring verbindet sich mit einer kleinen Kette bis zu einem Ohrring, die Hände sind mit Henna bemalt. Als einer der sechs Fotografen, die so eine indische Hochzeit festhalten, über den anderen stolpert und fast in das Hochzeitspaar kracht, ruft Nandini beruhigend: «Relax.»
Nandini arbeitet mit 18 Priesterinnen
Viele Traditionen werden auch von Nandini und ihren Kolleginnen ernst genommen, manche Details allerdings verändern sie. So wird bei einer traditionellen Hochzeit die Frau dem Mann und seiner Familie vom Brautvater geschenkt, sie geht gewissermassen in deren Besitz über. Als Zeichen dafür färbt der Bräutigam der Braut den Scheitel mit rotem Puder. «Kanyadaan» nennt sich dieses hinduistische Ritual, das Nandini und viele moderne Inderinnen als rückständig empfinden. Bei ihr malt zuerst die Braut dem Mann ein rotes Mal auf die Stirn. Dann bekommt sie die Scheitelfarbe. Beide nehmen sich gegenseitig an. Ein entscheidender Unterschied.
Die mittlerweile 18 Priesterinnen, mit denen Nandini arbeitet, überführen die alten Rituale in ein modernes Frauenbild, als Gruppe haben sie sich den Namen Shubhamastu gegeben, was «Es soll gedeihen» bedeutet. Und es ist kein Zufall, dass sie alle aus Westbengalen kommen, einem der liberalsten Bundesstaaten Indiens, in dem eine Frau Landeschefin ist und die Frauenquote im Parlament bei mehr als 30 Prozent liegt. Als feministisches Projekt bezeichnet Nandini ihre Gemeinschaft trotzdem nicht, «ich bin einfach gegen jedwede Diskriminierung, sei es bei Geschlecht, Hautfarbe, Kaste oder Religion».

Wenn der Hinduismus nicht zur nationalistischen Ideologie umgemünzt wird wie von der aktuellen Regierung in Indien, ermöglicht er eine offene, inklusive Lebensweise. Es gibt in dieser Weltreligion kein geistliches Oberhaupt, keinen Klerus, der Jobs und Macht verteilt. Ein Hindu-Priester wird man, indem man es macht. Es kommt nur darauf an, dass andere einen engagieren. «Fünf Jahre lang war es hart», sagt Nandini, ein Anruf pro Jahr, höchstens zwei. Dann wurden die Fernsehsender auf sie aufmerksam, Social Media wurde gross, ein Dokumentarfilm über Nandini lief erfolgreich im Kino. «Ich war sogar in einer Kochshow und habe dort über mein Leben erzählt.»
Im vergangenen Jahr haben Nandini und ihre Shubhamastu-Kolleginnen 165 Hochzeiten begleitet, dabei müssen sie zwei Drittel der Anfragen ablehnen, so gross ist das Interesse. Es ist schon lange mehr als ein Vollzeitjob. «Tatsächlich versuche ich, die meisten Aufträge mittlerweile an meine Kolleginnen abzugeben, und ermutige sie, eigene Kollektive zu gründen», erzählt Nandini bei einem Gespräch in ihrem Haus in Kalkutta.
«Viele Menschen in Indien sind heute gebildet, aber sie müssen sich von alten Tabus befreien», sagt Nandini. So herrscht in vielen Gegenden Indiens noch der Glaube vor, dass Frauen unrein sind in den drei oder vier Tagen im Monat, in denen sie ihre Menstruation haben. Sie dürfen in dieser Zeit nicht an einem religiösen Ritual teilnehmen, «und das ist einfach nur falsch, es steht in keinem Text, es ist nur seit Jahrhunderten üblich».
Nandini fordert die Gläubigen dazu auf, nicht alles zu glauben, was die Priester sagen, «glaubt eurem Verstand, denkt logisch!» Es sei nicht damit getan, etwas in Sanskrit zu singen und mit dem Herzen dabei zu sein, «man muss verstehen, was man da singt», sagt Nandini, «also: fragt den Priester!» Viele Priester aber hätten die alten Schriften gar nicht gelesen oder nicht richtig verstanden. «Und wenn sie Fragen nicht beantworten können, werden sie ärgerlich und sagen: Zweifle nicht, sonst wird dein Gott böse auf dich. Es ist in jeder Religion das Gleiche.»
Als würde eine Frau den Ostersegen in Rom sprechen
Die Priesterinnen führen sogar öffentliche Pujas aus, hinduistische Verehrungsrituale, wie sie jedes Jahr allein in Kalkutta zu Tausenden stattfinden. Die Puja zu Ehren der Göttin Durga ist die grösste. Die etwa 15 Millionen Einwohner der alten Hauptstadt sind dann auf den Strassen, tanzen, feiern, beten, singen und trommeln. Als im Jahr 2022 ein Priester starb, wurde Nandini von den Organisatoren des Festivals gebeten, seine Aufgaben zu übernehmen. Sie und ihre Kolleginnen mussten sich wochenlang vorbereiten, vorlesen, proben. Eine Durga-Puja geht über fünf Tage, zweimal täglich über drei Stunden, mit grossen Mantras und vielen Ritualen, «dafür braucht man sehr viel Kraft», sagt Nandini. «Und man kann nicht improvisieren, da muss man die Traditionen kennen, weil die Menschen emotional reagieren.»
Dass Nandini als Priesterin zur Durga-Puja gebeten wurde, darauf ist sie sichtlich stolz. Das war, als würde eine Frau den Ostersegen auf dem Petersplatz sprechen. «Ich habe natürlich auch in den Durga-Mantras Fehler gefunden», sagt die ehemalige Sanskrit-Lehrerin und schüttelt den Kopf. Danach aber hätten die Telefone bei ihr und ihren Mitpriesterinnen ununterbrochen geklingelt, Mädchen und Frauen hätten zum ersten Mal gesehen, dass das geht, «Priesterin zu sein, als Arbeit und Aufgabe im Leben». Und weil es im riesigen Indien immer noch so viele gibt, die das nicht wissen, macht Nandini weiter.
Fehler gefunden?Jetzt melden.