Italiens Erwachen In Bergamo starben sechsmal mehr Menschen als sonst
Eine breit angelegte Studie zur Übersterblichkeit in Italien bestätigt die wahre Tragödie in der am stärksten betroffenen Provinz im Norden. Und nicht alles war Schicksal.
Die ganze Dramatik in einem statistischen Wert: plus 568 Prozent. In Bergamo und seiner Provinz sind in den ersten Wochen der Epidemie 568 Prozent mehr Menschen gestorben, als dort in normalen Jahren sterben.
Das hat das nationale Statistikamt Istat und das Istituto Superiore di Sanità, Italiens oberste Gesundheitsbehörde, in einer breit angelegten Studie zur Übersterblichkeit im Land herausgefunden. Keine Gegend in Europa wurde härter getroffen als «la Bergamasca», das wusste man schon davor. Aus Bergamo kamen die Bilder des Militärkonvois in der Nacht, die im Nachhinein wie eine Zäsur wirken: Die Transporter brachten die Särge der Toten weg, für die es in den Leichenhallen und auf den Friedhöfen keinen Platz mehr gab. Danach beschönigte in Italien die Lage niemand mehr.
Und im Süden alles wie sonst
Nun aber gibt es erstmals belastbare, nationale Daten zum Ausmass der Tragödie. Für die Studie wurde der Mittelwert der Todesfälle in 6866 von insgesamt 7904 italienischen Gemeinden zwischen 2015 und 2019 herangezogen. Man konzentrierte sich dabei auf die Wochen zwischen dem 20. Februar und dem 31. März: Heraus kam der Wert von 65’592.
In diesem Jahr starben in Italien in derselben Zeitspanne 90’946 Menschen. Also 25’354 mehr als durchschnittlich, die allermeisten von ihnen im Norden des Landes. Nach Bergamo traf es folgende Provinzen besonders hart: Cremona (plus 391 Prozent Tote), Lodi (plus 371 Prozent), Brescia (plus 291 Prozent), Piacenza (plus 264 Prozent) und Parma (plus 208 Prozent). Auch eine andere wichtige Erkenntnis erfährt damit eine erstaunlich deutliche Bestätigung: Im Zentrum und im Süden Italiens liegt die Sterblichkeitsrate 2020 ungefähr auf demselben Niveau wie immer.
Durch den einheitlichen und landesweiten Lockdown gelang es nicht nur, eine potenziell verheerende Ausbreitung des Erregers in den wirtschaftlich schwächeren Teil Italiens zu verhindern. Die Sterblichkeit war in diesen Gegenden sogar geringer als in anderen Jahren, weil es natürlich auch weniger Verkehrs- und Arbeitsunfälle gab. In Rom etwa starben 9,4 Prozent weniger als sonst.
Alles Corona, direkt oder indirekt
Die zentrale Frage für die Ermittler und Experten ist nun, wie viele von den 25’354 Menschen tatsächlich an Covid-19 gestorben sind. 13’710 scheinen in den offiziellen Statistiken des nationalen Zivilschutzes auf. Bleiben 11’644. Von vielen von ihnen nehmen die Verfasser der Studie an, dass sie entweder direkt oder indirekt ebenfalls wegen Corona gestorben sind. Drei Kategorien wurden ausgemacht: Personen, vor allem in den Altersheimen und daheim, die an Covid-19 starben und bestattet wurden, ohne getestet worden zu sein; Menschen, deren Vorerkrankungen sich durch die Ansteckung undiagnostiziert und fatal beschleunigt haben; und Personen, die wegen der Überlastung der Spitäler nicht behandelt werden konnten, und solche, die sich trotz Leiden selbst nicht trauten, in die Notaufnahme zu gehen. Die Behörden hatten die Bürger ohne Covid-19 und jene mit leichten Symptomen ja auch aufgefordert, die Krankenhäuser möglichst nicht zu behelligen.
Ein Tal im Zentrum
Alles war also nicht Schicksal. Der scheinbar plötzlichen Eskalation der Krise gingen wohl Fehler voraus. Giorgio Gori, der Bürgermeister von Bergamo, spricht von einer «breiten, parteiübergreifenden Unterschätzung» zu Beginn der Epidemie und nimmt sich selbst dabei nicht aus. Im Norden ermitteln nun Staatsanwälte in mehreren Fällen, ob es wirklich nur das war oder ob sich Beamte und Politiker womöglich auch fahrlässige Tötung vorwerfen lassen müssen.
Im Zentrum des brisantesten Falls steht das Krankenhaus Pesenti Fenaroli in der Kleinstadt Alzano Lombardo im Val Seriana, einem Tal im Hinterland Bergamos. Durch Vertuschung und Missgeschick, so die Vermutung, wurde es zu einem der grössten Infektionsherde im ganzen Land.
«Das versteckte Massaker»
Die Fernsehsendung «Bersaglio mobile» von La 7 fand jetzt heraus, dass die Leitung der Klinik – offenbar auf Geheiss der lombardischen Gesundheitsbehörde – den Betrieb auch nach den ersten Infektionsfällen einfach weiterlaufen liess. Am 23. Februar schloss die Klinik kurz die Tore, weil ein Teil des Personals auf eine sofortige Schliessung gepocht hatte, wie eine Pflegerin dem Sender anonym erzählte. Nach nur drei Stunden war das Krankenhaus aber wieder offen, als wäre alles unter Kontrolle. La 7 gab ihrem Beitrag den Titel «Das versteckte Massaker».
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