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Ärzte mit Berufsverbot
Müssen sich Schweizer Patienten Sorgen um ihre Sicherheit machen?

Ein Chirurgenteam in blauen Kitteln operiert in einem Operationssaal, umgeben von medizinischen Geräten.
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In Kürze:
  • Obwohl seit über zehn Jahren ein Interesse besteht, nimmt die Schweiz noch immer nicht am Binnenmarkt-Informationssystem der Europäischen Union (IMI) teil. Dieses umfasst auch ein Warnsystem, das in Echtzeit über gesperrte Ärzte in Europa informiert.
  • Dieses Abseitsstehen der Schweiz erschwert die Prüfung ausländischer Bewerbungen und sorgt für Beunruhigung hinsichtlich der Sicherheit von Patientinnen und Patienten.
  • Das IMI ist in der kurz vor Weihnachten ausgehandelten Lösung zwischen der Schweiz und der EU enthalten. Eine Teilnahme der Schweiz könnte ab Inkrafttreten der künftigen Abkommen erfolgen.
  • Das Warnsystem umfasst auch Meldungen zu gefälschten Diplomen oder zu wegen Pädophilie verurteilten Fachkräften im Bereich der Erziehung von Minderjährigen.

Ein von der Ärztekammer in Frankreich ausgeschlossener Schönheitschirurg erhält im Herbst 2024 eine Berufsausübungsbewilligung in Genf. Diese wird jedoch nach Recherchen der französischsprachigen Zeitungen «24 Heures» und «Le Canard enchaîné» suspendiert. Ein auf Adipositaschirurgie spezialisierter Arzt aus Rumänien, der unter anderem in Deutschland praktizierte und danach in die Schweiz zog, wird 2018 in Zürich gesperrt. Nach einer Zwischenstation in Kiew ist er heute Leiter einer Fachklinik in Rom. Ein anderer Arzt wiederum, der 2022 im Kanton Neuenburg gesperrt wurde, tauchte einige Wochen später in einem medizinisch unterversorgten Gebiet in Frankreich wieder auf und praktizierte dort weiter als Arzt.

Die Liste ist nicht abschliessend. Dennoch stellt sich hier immer die gleiche Frage: Hätten die sanktionierten Ärzte ihre berufliche Tätigkeit weiterhin ausüben können, wenn die Schweiz dem Binnenmarkt-Informationssystem der Europäischen Union (IMI) beigetreten wäre?

Das 2008 eingeführte IMI ist ein sicheres mehrsprachiges Online-Tool, das den Informationsaustausch zwischen den Behörden der Europäischen Union erleichtert. Zu den über 100 Verfahren, die es unterstützt, gehört seit 2016 auch ein Warnsystem, mit dem sich alle zuständigen Behörden in Echtzeit Informationen beschaffen können über Berufsverbotsfälle, die Personen betreffen, die im Gesundheitswesen oder im Erziehungs- und Schulbereich mit Minderjährigen arbeiten. Das IMI umfasst alle Länder der Europäischen Union sowie Liechtenstein, Island und Norwegen.

Mitten in Europa gibt es jedoch ein Land, das nicht dazugehört: die Schweiz. Diese Tatsache wird unter anderem in einem im Januar 2022 veröffentlichten Bericht des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements an den Bundesrat bedauert: «Jährlich werden vom IMI mehrere Tausend Warnungen ausgelöst. Die Schweiz ist aktuell das einzige Land, das diese Meldungen nicht umgehend erhält, weshalb es schwierig ist, die von den Mitgliedsstaaten der EU gemachten Angaben zu berücksichtigen, namentlich die Berufsverbote für Medizinerinnen und Mediziner sowie andere Berufsverbote gestützt auf Strafurteile (zum Beispiel im Bereich der Pädophilie).»

Genfer Gesundheitsvorsteher spricht von «gefährlicher Schwachstelle»

Obwohl es keine Statistik gibt, die über die Anzahl betroffener Schweizer und ausländischer Fachkräfte Aufschluss geben könnte (der Informationsaustausch erfolgt in beide Richtungen), ist dieses Abseitsstehen für viele unverständlich oder beunruhigend. Dies trifft besonders auf den medizinischen Bereich zu, wo ein Fachkräftemangel herrscht und für ausländische Verhältnisse sehr attraktive Löhne geboten werden.

Diese starke Abhängigkeit vom Ausland lässt sich anhand einer Zahl messen. Im Jahr 2023 waren laut der von der FMH veröffentlichten Ärztestatistik 16’590 von 41’100 in der Schweiz praktizierenden Ärztinnen und Ärzte ausländischer Herkunft, was einem Anteil von 40,4 Prozent entspricht. Der Prozentsatz ist in den letzten zehn Jahren kontinuierlich gestiegen.

Für Staatsrat Pierre Maudet, der dem Genfer Departement für Gesundheit vorsteht, «handelt es sich um eine gefährliche Schwachstelle im europäischen Informationssystem, von dem die Schweiz ausgeschlossen ist». Er erklärt: «Da die Sicherheit der Patientinnen und Patienten an erster Stelle steht, werde ich meine kantonalen Kolleginnen und Kollegen bitten, zusammen eine interkantonale Lösung zu finden.»

«Schockierend» für die Sicherheit der Patientinnen und Patienten

«Bald» heisst es immer wieder im Zusammenhang mit diesem heiklen Dossier, das weiterhin unter dem politischen Radar bleibt. Im September 2014 tauchte das Thema Binnenmarkt-Informationssystem kurz im Schweizer Parlament auf, nachdem die ehemalige Nationalrätin Barbara Schmid-Federer (Mitte, ZH) eine Interpellation eingereicht hatte, in der sie sich besorgt zeigte über die Möglichkeit ausländischer Ärzte, ein in ihrem Land ausgesprochenes Berufsverbot mit einer Niederlassung in der Schweiz zu umgehen. Eine Möglichkeit, die Schmid-Federer in Bezug auf die Sicherheit von Patientinnen und Patienten als «schockierend» bezeichnete.

Die Regierung antwortete, dass das IMI sowohl auf Bundes- als auch auf Kantonsebene «nützlich wäre» und dass das «Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) im November 2012 der Europäischen Kommission seine Absicht mitgeteilt hat, sich an dem System zu beteiligen».

Kurz nach Annahme der Initiative «Gegen Masseneinwanderung» am 9. Februar 2014 wurde jedoch das IMI-Gesuch sozusagen in ein künstliches Koma versetzt, das auch nach dem Abbruch der Verhandlungen mit der EU über das institutionelle Rahmenabkommen im Jahr 2021 fortbesteht.

Das Ergebnis? «Die Schweiz nimmt immer noch nicht am Binnenmarkt-Informationssystem teil», bestätigt Frédéric Berthoud, Ressortleiter Internationale Bildungszusammenarbeit und Berufsqualifikationen beim SBFI. «Wir sind uns der Bedeutung des Systems bewusst und haben bei den Europäischen Gemeinschaften (EG) auch auf einen Zugang zum IMI gedrängt. Dies wäre übrigens auch im Interesse der EG gewesen, da ihre Mitglieder dann auch über die in der Schweiz verhängten Verbote informiert worden wären.» In den letzten zehn Jahren hat sich jedoch in der Praxis aufgrund der politischen Blockade in den bilateralen Beziehungen kaum etwas bewegt.

Für Ständerat Hurni ist es nur ein «halbes Problem»

Es stellt sich die brennende Frage: Müssen sich Patientinnen und Patienten in der Schweiz Sorgen um ihre Sicherheit machen? Ist die Schweiz ein möglicher Zufluchtsort für «fehlbare Ärzte und verurteilte pädophile Erzieher», wie es einige provokativ, aber anonym formuliert haben?

Ständerat Baptiste Hurni (SP, NE), Vizepräsident der Schweizerischen Patientenorganisation (SPO), will nicht Öl ins Feuer giessen und spricht von einem «halben Problem». Er erklärt: «Alles, was einen besseren Schutz der Patientenschaft vor nicht vorschriftsgemäss praktizierenden Ärzten ermöglichen kann, geht in die richtige Richtung. Ich befürworte deshalb eine Teilnahme der Schweiz an diesem Programm.» Er sieht darin jedoch keine Wunderlösung: «Um effizient zu sein, muss das System gut mit Daten versorgt werden, was ich nicht messen kann. Zudem werden nur Personen erfasst, deren Sanktionen vollstreckbar sind. Diejenigen hingegen, gegen die ein Verfahren läuft, sind nicht aufgeführt.»

Baptiste Hurni, SP-Ständerat aus Genf, porträtiert am 5. Dezember 2019 in Bern. Er trägt eine Brille, einen dunkelgrauen Anzug, ein weisses Hemd und eine rote Krawatte.

Der Neuenburger vertraut auf die Sorgfalt der Kantone, die für die Erteilung von Berufsausübungsbewilligungen in ihrem Gebiet zuständig sind, sobald die Medizinalberufekommission (Mebeko) das Diplom des Bewerbers oder der Bewerberin anerkannt hat. Bei der erforderlichen Untersuchung wird vor allem überprüft, ob der Antragsteller in seinem Herkunftsland nicht in einen zweifelhaften Fall verwickelt ist.

Es werden mehrere Dokumente verlangt, unter anderem ein Führungszeugnis, das bescheinigt, dass beispielsweise ein Arzt das Vertrauen der Ärztekammer geniesst, da gegen ihn keine verwaltungs- oder strafrechtlichen Sanktionen verhängt wurden. Das Führungszeugnis wird von den nationalen Berufskammern ausgestellt, wenn der Bewerber in den letzten fünf Jahren im Ausland praktiziert hat. Beim SBFI weist Frédéric Berthoud noch darauf hin, dass es seit 2002 «eine Verpflichtung zur administrativen Zusammenarbeit und zur Information im Fall einer Verurteilung gibt. Auch diese muss in Anspruch genommen werden.»

Behörden zwischen Hammer und Amboss

Theoretisch ist also alles vorgesehen. Nur ist ohne das Binnenmarkt-Informationssystem alles komplizierter für die kantonalen «Ermittler», da jeder für sich im stillen Kämmerlein arbeitet. Sie müssen für jeden einzelnen Fall die ausländische Aufsichtsbehörde einschalten. Zudem ist es nicht einfach, die richtigen Ansprechpartner zu finden und dann auch noch Antworten zu erhalten. «Wir haben die Mittel, um Überprüfungen vorzunehmen, aber da wir nicht im Club sind, dauert das Ganze viel länger», erklärt Baptiste Hurni.

Mit dieser Langsamkeit haben Regionen mit einem Ärztemangel gelegentlich Mühe. Hurni beschreibt es wie folgt: «Die Behörde kann sich zwischen Hammer und Amboss befinden, das heisst zwischen der Notwendigkeit, sehr schnell an Orte zu gelangen, wo dringend Ärzte benötigt werden, und dem Sicherheitsbedürfnis, das dazu führt, dass man manchmal lange auf Informationen von Dritten warten muss.»

Die Frage, ob dies das Risiko einer Laxheit verschärfe, verneint der Vizepräsident der Schweizerischen Patientenorganisation. Er könne sich das nicht vorstellen. Diese Ansicht teilen jedoch nicht alle Ärzte. «Man fragt sich manchmal schon, wie diese Untersuchungen durchgeführt werden», sagt beispielsweise ein Arzt, der einst den Tamedia-Recherchedesk kontaktierte, weil der Status eines Schönheitschirurgen, der sich in Genf niederlassen wollte, in Frankreich unklar war.

Hoffnung auf zukünftige Abkommen mit der EU

Das europäische System ist in der Schweiz zwar nach wie vor wenig bekannt. Doch die von uns befragten Fachleute anerkennen einstimmig seinen Nutzen und die Tatsache, dass eine Teilnahme der Schweiz ein echter Gewinn wäre. Doch ist dies auch möglich? Frédéric Berthoud in Bern zeigt sich nach dem jüngsten Abschluss der Verhandlungen mit der EU optimistisch: «Das IMI ist in der Lösung enthalten, die kurz vor Weihnachten ausgehandelt wurde.»

Eine Teilnahme sollte ab dem Inkrafttreten der künftigen Vereinbarungen erfolgen, «ohne Übergangsfrist, aber nach Abschluss der internen Verfahren». Das ist eine gute Nachricht für Patientinnen und Patienten, auch wenn die Teilnahme am IMI nicht unverzüglich erfolgen wird.

«Kantone sollten direkten Zugang zum IMI haben», sagt der Genfer Kantonsarzt im Interview

Alessandro Cassini, neuer Genfer Kantonsarzt, in seinem Büro in Genf am 4. Dezember 2024. Er trägt eine schwarze Brille, ein dunkelgraues Hemd und ein dunkelgraues Jackett. Foto von Pierre Albouy, Tribune de Genève.

Herr Cassini, Ihr Dienst stellt die Berufsausübungsbewilligungen im Kanton Genf aus. Denken Sie, dass die Schweiz am Binnenmarkt-Informationssystem (IMI) teilnehmen sollte?

Ja, eindeutig. Aus technischer Sicht wäre es ein Vorteil. Aber inhaltlich ist es ein politisches Problem, das auf Bundesebene gelöst werden muss.

Welches wären die Vorteile einer Teilnahme am IMI?

Ausserhalb des IMI zu sein, zwingt uns, grössere Anstrengungen zu unternehmen, was eine unnötige Bürokratie nach sich zieht. Wir müssen mehrere Ansprechpartner kontaktieren, wohingegen beim IMI-Online-Tool alles zusammengeführt wird und man verpflichtet ist, auf Anfragen zu antworten. Dadurch würde man deutlich Zeit sparen. Zurzeit müssen wir für jede Berufskammer einzeln vorgehen. In einigen Ländern wie Italien ist die Organisation regional. Wir müssen also zuerst herausfinden, aus welcher Provinz der Arzt oder die Ärztin stammt – und dann auf eine schnelle Antwort hoffen.

Sollte eine allfällige Verbindung zum IMI auf Bundesebene zentralisiert werden?

Eine Beziehung zwischen der Schweiz und dem IMI sollte meiner Meinung nach nicht nur auf nationaler Ebene bestehen. Die Schweiz ist ein Sonderfall. Die durch den Föderalismus bedingten hohen kantonalen Befugnisse erhöhen die Komplexität. Deshalb wäre ein direkter Zugang der Kantone zum System besonders interessant. Das gilt übrigens nicht nur für Ärzte und Ärztinnen, sondern für alle zulassungspflichtigen medizinischen Berufe wie Psychologen, Physiotherapeutinnen, Ergotherapeutinnen, Zahnärzte oder Hebammen. In einem Sektor, in dem sich alles sehr schnell entwickelt, muss die Schweiz auch andere Entwicklungen auf europäischer Ebene aufmerksam verfolgen.

Worum geht es konkret?

Ich denke dabei insbesondere an den elektronischen Berufsausweis, der bescheinigt, dass ein Berufsangehöriger alle Anforderungen an die beruflichen Qualifikationen und die dauerhafte Niederlassung erfüllt. Bislang gibt es diesen Ausweis zum Beispiel für Pflegefachfrauen, Physiotherapeuten und Apotheker. Und er soll bald auch für Ärzte und Ärztinnen eingeführt werden. Dies ist ein sehr gutes Mittel, um die Anerkennungsverfahren zwischen den Ländern zu vereinfachen.

Aus dem Französischen übersetzt von Yolanda Di Mambro.