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Wenn sich Kinder vor dem Doktor fürchten
«Ich rede nie von Spritzen und Nadeln»

Zur Ablenkung ein paar Seifenblasen: Die Berner Kinderärztin kennt verschiedene Techniken, um Kindern die Angst vor einer Untersuchung zu nehmen.
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Frau Zehnder*, die meisten Kinder haben Angst vor dem Arzt. Was kann man dagegen tun?

In meiner Praxis arbeite ich mit verschiedenen Tricks. Ich erzähle zum Beispiel Geschichten, nehme das Kind mit auf Fantasiereisen oder verwandle mich in eine Zauberin. Auf diese Weise lenke ich das Kind ab. Auch wende ich Hypnose an. Mit solchen Techniken gelingt es meistens, Kinder für eine Zusammenarbeit zu gewinnen.

Sie hypnotisieren Kinder?

Ja, es handelt sich nicht um tiefe Veränderungen des Bewusstseinszustands, sondern um eine Art Alltagstrance, die durch Suggestion eingeleitet wird. Man nutzt die natürlichen Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen, sich gedanklich in andere Welten zu begeben. Zum Beispiel kann man sie dabei anleiten, sich einen Lieblingsort vorzustellen, an dem sie sich sicher fühlen. Eine einfache Methode ist auch das Zaubertüchlein: Ich lege es auf die Stelle, wo die Spritze oder die Blutentnahme stattfinden soll, und sage dem Kind, dass es schützt und unempfindlich macht.

Das funktioniert?

Ziemlich gut sogar. Viele Kinder sagen, sie hätten den Stich kaum gespürt. Man kann den Effekt noch verstärken, indem man gleichzeitig die Aufmerksamkeit auf andere Dinge lenkt. Für Kleinkinder kommen Musikdosen mit sich bewegenden Figuren infrage. Grössere Kinder kann man gut mit Musik oder Spielen ablenken. Häufig verwende ich auch den Käfer namens Buzzy. Der vibriert und kühlt gleichzeitig. Die drei Reize Vibration, Kälte und Schmerz werden über den gleichen Nerv übertragen. Ist dieser bereits mit zwei Reizen besetzt, hat der Schmerz keinen Platz mehr. Und natürlich bette ich Buzzy in eine Geschichte ein: Ich erzähle dem Kind, dass das Zappelkäferli herbeifliegt, um ihm zu helfen.

«Kinder kann man gut mit Musik oder Spielen ablenken.»

Was für weitere Tricks haben Sie auf Lager?

Gut ist, wenn das Kind während des Eingriffs aktiv etwas tun kann. Besonders gut hilft Ausschnaufen, denn das entspannt. Ich gebe ihm zum Beispiel ein Windrädchen, das es zum Drehen bringt, oder Seifenblasen. Für grössere Kinder gibt es Spiele auf dem iPad. Bei der App «Blow up the Frog» (erhältlich für iOS und Android) zum Beispiel müssen sie über das Mikrofon einen Frosch aufblasen. Pusten sie zu stark, platzt das Tier und wird vom Storch gefressen oder seine Schenkel landen auf dem Teller. Die Kinder haben unheimlich Spass daran. Leider kann ich die App zurzeit wegen der Tröpfchen in der Atemluft nicht einsetzen.

Wie weit soll man die Kinder über einen geplanten Eingriff aufklären?

Sie sollen auf altersgerechtem Niveau wissen, was auf sie zukommt und wieso das sein muss. Es hilft auch, wenn sie die Geräte in einer Praxis oder im Spital kennen lernen – am besten, indem sie die Apparaturen an ihrem Lieblingskuscheltier ausprobieren. Viele fürchten sich bereits vor einfachen Dingen wie der Waage, den Kopfhörern für den Hörtest oder dem Stethoskop. Beim Erklären spielt die Sprache eine wichtige Rolle. Ich achte zum Beispiel darauf, dass ich nicht von Spritzen und Nadeln rede. Vielmehr sage ich dem Kind: «Wir wollen zusammen herausfinden, was du beim Impfen tun kannst, damit es gut geht und du gesund bleibst.»

Können allzu detaillierte Informationen die Angst nicht noch steigern?

Meist fürchtet man sich vor dem Unbekannten stärker als vor etwas Vertrautem. Deshalb haben wir in unserem Buch «Alles okay?!» neben den Informationen für die Eltern auch für die Kinder einen Teil gestaltet. Auch das Gefühl des Kontrollverlusts löst Angst aus. Ich lasse das Kind deshalb so viel wie möglich selbst entscheiden: Will es im roten oder grünen Zimmer behandelt werden? Im Liegen oder Sitzen? Soll die Impfung am Arm oder Bein gemacht werden?

Impfungen muss man bereits bei Babys und Kleinkindern vornehmen. Die verstehen noch keine Geschichten oder Erklärungen. Wie gehen Sie da vor?

Hier ist die Komfort-Positionierung wichtig: Die Mutter oder der Vater halten das Baby ganz nahe an ihrem Körper, in ihrer bevorzugten Lage. Säuglinge kann man während des Stichs stillen oder ihnen ganz wenig Zuckerlösung verabreichen. Gleichzeitig lenkt man sie durch eine Musikspieldose visuell und akustisch ab.

Mit Süssigkeiten sind wohl auch Kleinkinder zu gewinnen?

Das empfehlen wir nicht. Einerseits funktioniert das ab zwei Jahren nicht mehr so gut wie bei Babys, weil der Reiz nicht mehr so neuartig ist. Und anderseits gewöhnt man die Kinder daran, Unangenehmes mit Süssem zu bewältigen. Auch die Kariesgefahr spricht dagegen.

Welche Rolle spielen die Eltern bei medizinischen Eingriffen?

Natürlich eine wichtige. Ihre Aufgabe ist es, das Kind vorgängig vorzubereiten. Dazu müssen sie selbst wissen, welche Massnahmen geplant sind, und davon überzeugt sein. Sind Eltern selbst ängstlich oder gespalten, überträgt sich das auf das Kind. Dann erkläre ich ihnen erst mal unter vier Augen, wieso eine Impfung oder Behandlung sinnvoll ist. Ich betone, wie wichtig es ist, dass sie Zuversicht ausstrahlen und dem Kind den Eingriff zutrauen, auch wenn er schmerzhaft oder unangenehm ist.

Viele Eltern versuchen, ihr Kind mit einer Belohnung in die Praxis zu locken. Sie versprechen ihm etwa einen feinen Zvieri oder das neue Lego-Set. Ist das eine gute Strategie?

Wie schon bei den Süssigkeiten wäre ich auch hier zurückhaltend mit möglichst tollen Belohnungen. Denn damit signalisiert man, dass etwas Schlimmes bevorsteht. Bei mir in der Praxis gibt es jeweils ein kleines Salzgebäck-Fischli nach der Behandlung – aber ohne Vorankündigung.

Viele Kinderärzte schicken besonders ängstliche Kinder zu Ihnen. Sind Sie immer erfolgreich?

Wenn ein Kind traumatisiert ist, etwa durch eine Notfallsituation im Spital, braucht es manchmal eine längere Therapie oder mindestens eine Extrasitzung vor der Behandlung. Dass ein Kind gar nicht mitmacht, habe ich in 18 Jahren nur ein einziges Mal erlebt.

Löst sich das Problem meist von selbst, wenn die Kinder älter werden?

Häufig, aber nicht immer. Man schätzt, dass auch zehn Prozent der Erwachsenen von einer Spritzen-Phobie betroffen sind. Die Hälfte davon geht aus diesem Grund nie zum Arzt oder Zahnarzt. Das kann schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben. Deshalb ist es so wichtig, dass bereits Kinder lernen, wie sie cool bleiben und nach einer Impfung stolz aus der Praxis hinausgehen können.

* Sabine Zehnder (58) ist Kinderärztin mit eigener Praxis in Bern, sie hat eine Zusatzausbildung in medizinischer Hypnose und ist auch selbst Mutter. Letztes Jahr hat sie mit einer Berufskollegin ein Fotobuch zum Thema veröffentlicht: «Alles okay?! Was ich bei der Kinderärztin erleben kann…», Lea Abenhaim & Sabine Zehnder, Verlag Creathera, Bern 2019.