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Zehn Jahre nach Fukushima
«Ich lebe weiter – mit dem Kummer»

Sie vermisst ihre Heimat: Ayako Oga, die nach der AKW-Havarie aus Okuma flüchten musste.
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Zehn Jahre später sitzt Ayako Oga in ihrem neuen Leben und weiss nicht gleich, was sie sagen soll. Wie es ihr geht? Sie hat schon einige Interviews gegeben zum grossen Ostjapan-Erdbeben, das den Tsunami auslöste, der die dreifache Kernschmelze im Atomkraftwerk Fukushima-Daiichi verursachte, durch die wiederum ihre kleine schöne Welt in der Stadt Okuma unterging.

Sie ist eine erfahrene Kernkraftgegnerin, 48 Jahre alt. Sie gehört einer Bürgerinitiative an. Zuletzt hat sie für das Projekt einer Umweltorganisation als Zeugin der Nuklearkatastrophe gesprochen. Es ist ihr ein Anliegen, zu erzählen. Sie kann das gut mit ihrer ungeschminkten, lebendigen Art, deren Wärme durch den Stoff ihrer Anti-Corona-Maske dringt. Und in dieses kleine Café am Rande eines Parkplatzes in der Grossstadt Niigata an der Westküste ist sie ja auch gekommen, um über die Verheerungen des Atomunfalls zu sprechen.

Aber wie es ihr selbst geht? Gesundheitlich? Seelisch? Als Evakuierte, deren Heimat immer noch eine Geisterstadt ist? Als Entwurzelte im eigenen Land? «Das mit einem Wort zu sagen, ist schwierig.» Sie schaut an ihrem Ingwertee vorbei ins Leere. Sie scheint einzutauchen in die Tiefen einer Betroffenheit, die keine Medizin und keine wissenschaftliche Erkenntnis lindern kann.

Das grosse Ostjapan-Erdbeben ereignete sich am 11. März 2011 um 14.46 Uhr. Ayako Oga und ihr Mann packten gerade ihre Sachen in Kisten. Zehn Tage zuvor war ihr Traumhaus am Waldrand von Okuma fertig geworden, erbaut nach den Plänen eines Freundes mit Holz aus den örtlichen Abukuma-Bergen. Am 15. März wollten sie ihr Mietshaus in Okumas Zentrum ausgeräumt haben und einziehen. Die Erschütterungen waren so stark, dass die eingepackten Sachen aus den Kisten fielen und die Balken knirschten. Stärke 9,0 auf der Momenten-Magnituden-Skala. Das gab es in Japan seit Beginn der Erdbebenaufzeichnungen noch nie.

«Schwierig zurückzukehren»: Fast die ganze Kleinstadt Okuma ist immer noch menschenleer. 

Das kleine Mietshaus schwankte wie ein Schiff bei wildem Seegang. Der Tisch fuhr im ganzen Raum herum. Ayako Oga und ihr Mann hielten sich aneinander fest. Es war, als wollte jemand gar nicht mehr aufhören, an der Erde zu rütteln. Sie hatten Angst, aber konnten sich nicht bewegen. Später, bei den Nachbeben, flüchteten sie auf den Parkplatz. Um 15.37 Uhr schlug eine riesige Welle gegen das Kernkraftwerk Fukushima-Daiichi an der Pazifikküste im Grenzgebiet von Okuma, viereinhalb Kilometer entfernt von Ayako Ogas Mietshaus.

165’000 Menschen mussten evakuiert werden

Sie selbst mussten den Tsunami nicht fürchten, der in der Stunde nach dem Erdbeben in Japans Osten 500 Quadratkilometer Land überflutete und 15’000 Menschen in den Tod riss. Ihr Standort war hoch genug. Aber sie dachten an das Atomkraftwerk. Im Radio redete man vor allem vom Tsunami. Der Strom war weg.

Der Empfang war schlecht, aber gegen fünf erreichte Ayako Oga ein Anruf. Eine Freundin sagte, die gesamte Stromversorgung von Fukushima-Daiichi sei ausgefallen. Noch ehe sie Fragen stellen konnte, war der Empfang wieder weg. «Ich dachte, wir müssen mehr Informationen beschaffen.» Mit ihrem Mann fuhr sie über die aufgeworfenen Strassen, an umgestürzten Strommasten und kaputten Häusern vorbei, auf der Suche nach Empfang, in die Berge hinein, dann nach Süden. Aus dem Radio hörten sie vom ersten Evakuierungsbefehl für den 2-Kilometer-Umkreis des Kernkraftwerks. Sie wollten zurück, die anderen warnen, aber es ging nicht.

Zehn Jahre nach dem GAU: Das Atomkraftwerk Fukushima-Daiichi in einer Aufnahme vom Februar 2021.

Die Nacht verbrachten sie bei Freunden in Iwaki, 40 Kilometer von Okuma entfernt. Am nächsten Tag wurde der Evakuierungsbefehl auf den 20-Kilometer-Umkreis des Kraftwerks ausgeweitet. Der erste Reaktorblock explodierte. Ayako Oga und ihr Mann gehörten zu den 165’000 Menschen, die aus der Unglückszone von Fukushima evakuiert werden mussten. Zehn Jahre später hat Japans Regierung immer noch 37’000 Menschen registriert, die nicht in ihre Städte zurückgekehrt sind. Die meisten Evakuierungsbefehle sind aufgehoben. (Lesen Sie auch die Artikel «Die wahren Ursachen für Fukushima» und «Chronologie einer Katastrophe».)

Seit März 2020 kann man sogar Okuma wieder betreten. Aber ein Happy End ist das noch nicht. Mit grossem Aufwand hält der Kraftwerksbetreiber Tepco die kaputten Reaktoren unter Kontrolle. Der Rückbau ist bis irgendwann zwischen 2041 und 2051 geplant. Und die Betroffenen versuchen, mit dieser Radioaktivität klarzukommen, die keiner sieht und keiner riecht, die aber trotzdem immer da ist.

Nach wissenschaftlicher Erkenntnis ist die Präfektur Fukushima zwar nicht mehr gefährlich. Aber gegen die Strahlenängste des nuklearen Zeitalters hat die Wissenschaft keine Chance. Die Einsicht, dass nicht schon die blosse Existenz von Radioaktivität schädlich ist, hilft nicht gegen das Trauma des Verlusts.

Okuma war für Ayako Oga eine Zuflucht aus der grauen Enge der Metropolen. Aufgewachsen ist sie in Koganei, Präfektur Tokio. Der Atomunfall von Tschernobyl 1986 zeigte ihr die mysteriöse Gefahr der Radioaktivität. Sie war 13 und schloss sich der Antiatomkraftbewegung an. Mit der Bewegung kam sie auch in den Landkreis Futaba, in dem Okuma liegt und in dem Tepco neben Fukushima-Daiichi noch ein zweites Atomkraftwerk betrieb.

Fukushima-Daini erregte 1989 die Aufmerksamkeit ihrer Gruppe, weil es wegen eines Störfalls abgeschaltet werden musste. Ayako Oga ging in der Gegend von Tür und Tür, um über die Risiken der Kernkraft zu informieren. Sie mochte die ländliche Idylle, die sich hier zwischen Meer und Bergen erstreckte. 1995 bot ihr eine Freundin an, bei ihr in Okuma einzuziehen. Es war nicht die einfachste Wahl. Okuma lebte von der Kernkraft. Konservative Männer regierten. Aber hier gab es Felder und einen klaren Blick auf den Mond.

Ayako Oga blieb. Sie betrieb Ökolandwirtschaft. Jobbte im Landkreis in unterschiedlichen Betrieben. Sie lacht, wenn sie sich daran erinnert. Sie schloss Freundschaften. Lernte ihren Mann kennen. Baute das Traumhaus. Es war ein gutes Leben in Okuma. Bis zur Nuklearkatastrophe.

285 Menschen leben heute in der früheren 11’500-Seelen-Gemeinde Okuma.

Nur einmal ist sie seither zurückgekehrt. Sie zeigt ein Bild. April 2020. Im weissen Schutzanzug steht sie am Fenster des einstigen Traumhauses. Efeu wächst durch die Ritzen. Welkes Laub bedeckt das Parkett. «Mindestens zweimal wurde eingebrochen.» Die Einbrecher liessen die Tür offen. Im Haus war ein totes Tier. Okuma sah verwittert und abgestorben aus. «Das war nicht mehr die Stadt, in der ich mal gewohnt habe.»

Okuma unterliegt immer noch fast vollständig dem Status «Schwierig zurückzukehren», weil die jährliche radioaktive Dosis für ständige Bewohner zu hoch wäre. Dass die Totalsperre aufgehoben wurde, ist eine Massnahme der Regierung zum Wiederaufbau.

Nach Angaben der Stadtverwaltung sind heute 285 Menschen in der früheren 11’500-Seelen-Gemeinde Okuma gemeldet, vor allem ältere Rückkehrer. Dazu kommen einige hundert Tepco-Arbeiter, die nur vorübergehend da sind. Sie alle leben in einer entfernten Ecke des Stadtgebiets, in dem es früher vor allem Ackerland gab. Geschmackvolle Neubausiedlungen und das neue elegante Rathaus sind hier entstanden. Ein Ladenzentrum mit Restaurants ist gerade erst fertig geworden und soll im April eröffnen.

Zeugnis der Nuklearkatastrophe: Säcke mit radioaktiv verseuchter Erde auf einem Gelände in Okuma.

Aber sonst ist Okuma noch so unbewohnt wie seit den ersten Tagen der Krise. Am Bahnhof klärt ein Computerschirm über die Radioaktivität im Stadtgebiet auf. Es sind zahlreiche Werte, im Westen liegen sie teilweise unter 0,1 Mikrosievert pro Stunde, im Zentrum sind sie höher, einer erreicht 6,959. Alle sind unbedenklich. Ein verwittertes Schild sagt: «Welcome to Okuma».

Ein Restaurant mit Backsteinfront und blauen Ziegeln liegt hinter Gittern. Es geht nur geradeaus weiter. Die Strassen, die einst nach rechts und links ins Geschäftsleben der Stadt führten, sind abgesperrt. An manchen Ecken stehen Wachleute. Im Stadtteil Shimonogami leuchtet ein Plastikhase im Gestrüpp eines verwilderten Spielplatzes. Der Wind streicht durch die Zweige und das hohe Gras, hinter denen die Schaukel fast verschwindet. Drumherum: stillgelegte Bürgerlichkeit. Stattliche Häuser mit zugezogenen Vorhängen.

Manche Gärten wurden dekontaminiert, deshalb sehen sie ordentlich aus. In einer Einfahrt steht ein Auto mit platten Reifen. Der Weg führt hinaus in den dünner besiedelten Teil. Felder. Strommasten. Wäldchen. Kleine Bauernhöfe. Der würzige Frieden des Landlebens muss hier einst in der Luft gelegen haben mit Kinderlachen und Menschen, die ihre Saat pflegten. Jetzt sieht man kaputte Dächer, blätternde Fassaden, zugewucherte Traktoren. Und dann steht da plötzlich am Wegesrand aufrecht und gezeichnet das Traumhaus von Ayako Oga. Der Wald hat es fast schon verschlungen. Man muss Äste brechen, um zur Haustür zu kommen.

Die Stadtverwaltung von Okuma will in den nächsten fünf Jahren 4300 Menschen anziehen. Ob das gelingt? Im vergangenen Jahr machte die private Kwansei-Gakuin-Universität in Hyogo eine Umfrage unter Evakuierten. Von den wenigen Antwortenden gaben 65 Prozent an, nicht zurückkehren zu wollen. Wichtigster Grund: die Radioaktivität.

Ayako Oga sagt: «Mein Prinzip ist, man soll nicht zurückgehen, bevor die Strahlung wieder so niedrig ist wie vor dem Unfall.» Für sie geht es also nicht. «Allenfalls in 300 Jahren.» Sie wohnt inzwischen in Agano, einer Kleinstadt an der Westküste, wo die Strahlung gering ist. Sie baut wieder Gemüse an. Nach der ersten Odyssee lebten sie und ihr Mann im Westen Fukushimas, in Aizuwakamatsu, 120 Kilometer vom Kernkraftwerk entfernt. «Ich wusste, dass die Strahlungswerte nicht besonders hoch waren, trotzdem war das störend.» Sie war immer mit Maske unterwegs. Sie hielt sich von Bäumen und Blumen fern. «Ich habe sehr vorsichtig gewohnt.»

In Agano ist es besser, irgendwie. Doch wie geht es ihr? Tja. Krank ist sie nicht geworden. Sie hatte drei Fehlgeburten, die sie nicht auf die Strahlung schiebt. Aber die Unbeschwertheit ist weg. Wenn die Regierung Gemüse aus Fukushima für unbedenklich erklärt, zweifelt sie. «Ich bin misstrauisch.» Und es quält sie, dass sie ihre Heimat nicht mehr hat. «Ich lebe weiter», sagt Ayako Oga nach einer langen Pause, «mit dem Kummer.»