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Video

Meine Freundin, die Freikirchlerin
«Ich habe mich entschieden, Jesus zu folgen»

Julia Spreiter moderiert gekonnt in die Kamera: «Wir sprechen heute über ein ganz spezielles Thema, das mir besonders am Herzen liegt. Und zwar: Warum Jesus unser bester Freund ist.» Das Studio ist ein Wohnzimmer, es wirkt etwas provisorisch eingerichtet, neben ihr ein Flachbildschirm, in geschwungener Schrift ist darauf «Grace Church» zu lesen. Sie wirbt auf dem Youtube-Kanal «Grace Church Kids» für die Liebe zu Gott. Ihr Zielpublikum: Kinder. Ein Programm, gemacht für Kinder, mit klaren Botschaften.

So erkenne ich die junge Frau, mit der ich früher ins Gymnasium ging, nicht mehr wieder. In der Schule nahm ich Julia als extrovertierte, laute, aufgestellte und eigenständige Person wahr. Sie kam bei ihren Mitschülern gut an, sie war Mitglied in einer erfolgreichen Tanzgruppe und eine beliebte Cheerleaderin. Nun tanzt sie für Gott. Es gehört zum Konzept des Youtube-Kanals. Die Videos verzeichnen bis zu mehrere Tausend Klicks.

Wir haben uns nach über zehn Jahren wieder getroffen. Sie spricht zu mir, als sei die Kamera immer eingeschaltet. Sie beschreibt sich ganz selbstverständlich als «Church-Girl». Ihr Leben hat sie ganz der Freikirche verschrieben. Ein seltsames Gefühl, Vertrautheit und gleichzeitig Distanz zu dieser Person zu verspüren.

Radikale Veränderung

Eine Lebenskrise reichte für den Entschluss, sich der Freikirche «Grace Church» anzuschliessen und ihr Leben radikal zu verändern, erzählt sie mir: Plötzlich gläubig, lebt sie nun keusch, gibt zehn Prozent von ihrem Einkommen der Kirche ab, geht jeden Sonntag in den Gottesdienst und möchte nun, dass auch die Kinder eine solche Beziehung zu Gott eingehen.

Ich muss zugeben: Julias Wandel hat meine Neugier geweckt. Wie kam sie zu einer solchen 180-Grade-Wende? Julia willigte ein, sich von mir mit der Kamera begleiten zu lassen. Sie gewährt mir einen intimen Einblick in ihre Glaubenswelt und wie es zu diesem Wandel gekommen ist (siehe Video oben).

Sinnsuche, Orientierung, Krisensituation

Die Motive, wieso sich junge Menschen einer Freikirche anschliessen, seien individuell verschieden, meint die Psychologin Susanne Schaaf von der Fachstelle für Sektenfragen. Sinnsuche, Orientierung in einer Umbruchphase, die Suche nach etwas Bedeutsamen, sind nur einige Beispiele, die Schaaf aufzählt. «Die Gläubigen finden Anschluss, intensives Erleben, Halt und Hoffnung», meint die Psychologin.

Julia nimmt mich an ihren Gottesdienst mit. Offen, hilfsbereit, wie eine grosse Familie – so ist mein erster Eindruck von der modernen Grace Church in Buchs. So hilfsbereit, dass ich mich frage, ob das wirklich sein kann. Mir wird Kaffee angeboten, am Buffet darf ich mich bedienen. Auch Gründer und Pastor Ben Stolz lerne ich kennen. Mit seiner jugendlich-modernen Art wirkt er sehr einladend und charmant.

Wenig später dann das Kontrastprogramm: Den warmen Empfang bringe ich nicht mit den Werten zusammen, die im Gottesdienst vermittelt werden. Die Inhalte des anschliessenden Gottesdienstes sind reaktionär und haben sehr enge moralische Vorstellungen: kein Sex vor der Ehe, die Ablehnung der Evolutionstheorie, die kritische Haltung gegenüber Homosexualität.

«Amen!»

Die Glaubensgemeinde ist während des sogenannten Worships in Ekstase. «Amen!» und «Yes!» klingt es lautstark aus dem Publikum. Es ist die begeisterte Antwort auf die Geschichte eines Gast-Pastors, der auf der Bühne steht und über gebrochene Herzen predigt. Der Altersdurchschnitt der evangelikalen Freikirche ist tief, der Auftritt modern: Mit Schlagzeug und E-Gitarre präsentieren die Pastoren ihre konservativen Inhalte im modernen Gewand. Die Predigten sind online abrufbar, die Kirche ist in den sozialen Medien sehr präsent.

Neben den positiven Aspekten bergen freikirchliche Milieus auch Risiken. Diese hängen davon ab, wie sehr sich ein Mensch auf das System einlässt und sich damit identifiziert», sagt die Psychologin Susanne Schaaf. Die Gläubigen können sich bis zur Selbstverleugnung dem System unterordnen. Dies könne zu grosser innerer Zerrissenheit, zu nagenden Schuld- und Versagensgefühlen führen. Wenn die Betroffenen davon ausgingen, entweder bist du mit Gott unterwegs, oder du stehst auf der dunklen Seite, hätten sie auf den ersten Blick keine Wahl, für ihre eigenen Bedürfnisse einzustehen, solange sie überzeugt seien, dass dies zu ewiger Verdammnis führen könne.

Das Leben der Kirche verschrieben

Ein Aufruf wird in der Predigt eingeblendet: Spenden via Kreditkarte, Überweisung und App. Die Kirchenevents sind nicht gratis. Die Grace Church wirbt auf ihrer Internetseite für die Abgabe des Zehnten und beruft sich dabei auf die Bibel. Als Freikirche muss sich die Organisation selber finanzieren. Julia sagt dazu: «Wir leben eine Kultur, dass jeder das geben kann, was man möchte. Man kann so viel geben, wie man mag oder was dir Gott sagt, was du geben sollst. Ich habe für mich selber entschieden, dass ich von meinem Lohn zehn Prozent der Kirche abgebe.»

Julia ist heute 27 und hat durch die Freikirche einen neuen Lebensinhalt gefunden. Ich sehe, dass Julia in der Kirche glücklich ist, trotzdem fällt es mir schwer, ihre neuen Werte zu akzeptieren. Die Julia, die ich früher kannte, lebt in einer Welt, zu der ich keinen Zugang finde. Sie hat ihr Leben völlig der Kirche verschrieben.