Amoklauf an Sandy-Hook-SchuleHistorischer Vergleich – US-Waffenhersteller zahlt Millionen an Opferfamilien
Eltern von getöteten Kindern wollen die Waffenindustrie zu einem Kurswechsel zwingen: Sie legen schmutzige Werbepraktiken offen.
Remington gehört zu den bekanntesten Gewehrfabrikanten in den USA – und wohl bald zu den verruchtesten. Soeben hat die Firma einen Vergleich abgeschlossen mit Angehörigen des Amoklaufs von Sandy Hook im Bundesstaat Connecticut. In der Primarschule hatte vor zehn Jahren ein 20-Jähriger 20 Erstklässler und 6 Lehrerinnen erschossen. Seine Mutter und sich selbst brachte er ebenfalls um. Die meisten Schüsse feuerte er aus einer halbautomatischen AR-15-Waffe von Remington, die seiner Mutter gehörte: 156 innert nur 5 Minuten. Die meisten Opfer tötete er mit mehreren Schüssen.
Der Amoklauf erschütterte das Land der Waffennarren, Präsident Barack Obama gelobte in einer emotionalen Rede, die Vorschriften zu verschärfen. Die Pläne schafften es nie durch den Kongress.
Bisher höchste Abfindung
Nun haben die Angehörigen von neun der Kinder und vier der erwachsenen Opfer möglicherweise einen anderen Hebel gefunden, um der Waffenindustrie Grenzen aufzuerlegen. Sie erhalten mit dem Vergleich eine Abgeltung von insgesamt 73 Millionen Dollar, wie sie am Dienstag mitteilten. Es dürfte sich um die höchste je von US-Waffenherstellern geleistete Abfindung handeln.
Die Firma Remington anerkennt bei dem Vergleich keine Verantwortung. Sie ist im vergangenen Jahr pleite gegangen, die Abfindung wird nun von ihren vier Versicherungen bezahlt. Es sei wichtig, dass der Betrag hoch ausgefallen sei, sagte Josh Koskoff, der Anwalt der Familien: «Es musste ein Betrag sein, der die Aufmerksamkeit dieser Industrie weckt, der Versicherungen und der Banken.» Das ist den Angehörigen zweifelsohne gelungen. Sie hatten ihre Klage gegen Remington bereits 2014 eingereicht. Nach Prozessen bis vor das Oberste Gericht von Connecticut unterbreitete Remington im vergangenen Sommer noch ein Angebot, das mit 33 Millionen Dollar weniger als halb so hoch war.
«Die Firma benutzte skrupellose Marketingtaktiken, die gefährdete und gewaltbereite junge Männer ansprachen.»
Mindestens ebenso wichtig ist indes der zweite Teil des Vergleichs. Die Angehörigen dürfen Tausende interne Dokumente von Remington veröffentlichen, zu denen sie sich Zugang erstritten haben. Die Unterlagen sollen belegen, dass die Industrie ihre Waffenverkäufe auf problematische Art zu steigern versuchte, wie Nicole Hockley sagte, die Mutter eines der getöteten Sechsjährigen. «Die Firma benutzte skrupellose Marketingtaktiken, die gefährdete und gewaltbereite junge Männer ansprachen», sagte Hockley. «Das Marketing zielte auf jene, die mit ihrer AR-15 furchteinflössender, mächtiger und männlicher daherkommen wollten.» Anwalt Koskoff schilderte eine der Werbeaktionen als Aufforderung der Remington-Tochter Bushmaster, die E-Mail-Adresse von Freunden zu melden, die «kein Mann» seien, weil sie keine Bushmaster-Waffe besässen.
Es waren solche Marketingtaktiken, die es den Angehörigen erlaubten, die Verteidigung des Waffenherstellers zu knacken. Eigentlich schützt ein Bundesgesetz aus der Zeit von George W. Bush die Industrie vor Klagen, die von Angehörigen von Schusswaffenopfern eingereicht werden. Die Eltern der Sandy-Hook-Opfer fanden jedoch einen Weg, diesen Schutz auszuhebeln, indem sie ein Konsumentenschutzgesetz von Connecticut heranzogen und die Firmen für ihr Marketing rügten.
Nun wollen Angehörige von Sandy Hook die Waffenindustrie an den Pranger stellen und nachweisen, dass diese genauestens Bescheid wusste darüber, was sie mit ihren aggressiven Werbepraktiken anrichtete – analog zur erfolgreichen Kampagne gegen die Tabakindustrie in den 90er-Jahren. Inwiefern diese Blaupause nun auf die Waffenindustrie übertragbar ist, bleibt vorerst offen. Nur in wenigen Staaten wie New York und Kalifornien ist die Gesetzeslage vergleichbar mit derjenigen von Connecticut.
Politisch sind Verschärfungen weiterhin schwierig umzusetzen. Der Bundesstaat Maryland etwa hat viele halbautomatische Waffen verboten, darunter den Typ AR-15. Die zivilen Versionen von Sturmgewehren gehören zu den beliebtesten Waffen in den USA, viele lassen sich mit Magazinen ausrüsten, die bis zu 100 Schuss fassen. Gegen Marylands Verbot ist jedoch eine Klage vor dem Supreme Court hängig, worüber er in den nächsten Monaten entscheiden dürfte. Mehrere andere Staaten haben diese Woche das Oberste Gericht aufgefordert, das Gesetz aufzuheben, weil es gegen das Recht auf Waffenbesitz in der US-Verfassung verstosse. Und in von den Republikanern dominierten Staaten werden die Gesetze ohnehin nicht verschärft, sondern eher gelockert.
Präsident Joe Biden bezeichnete den Vergleich mit Remington am Dienstagabend als «historisch» und Beginn der Arbeit, «die Waffenhersteller zur Verantwortung zu ziehen dafür, dass sie Kriegswaffen produzieren und dies auf unverantwortliche Weise bewerben». Er forderte den Kongress auf, tätig zu werden. Seine Demokraten machen jedoch keinerlei Anstalten, die Waffenvorschriften ausgerechnet in einem Zwischenwahljahr anzutasten.
Korrektur vom 16. Februar 2022, 16:30 Uhr: Eine frühere Version des Artikels erwähnte im Titel ein «historisches Urteil». Es handelt sich jedoch um einen historischen Vergleich, der den Gerichtsprozess beendet.
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