Pro und Kontra Hilft das Gesetz, Terrorattacken in der Schweiz zu verhindern?
Die Polizei soll künftig Instrumente erhalten, um mögliche Terroranschläge im Keim zu ersticken. Notwendiges Übel oder ein zu grosser Eingriff in die Bürgerrechte? Die Redaktion ist sich uneins.
Ja
Das Muster wiederholt sich, ob bei den Anschlägen in Paris 2015, als islamistische Attentäter 130 Menschen töteten, oder beim Terror-Amoklauf von Wien am 2. November 2020: Immer waren der oder die Täter den Behörden schon bekannt, bevor sie zur blutigen Tat schritten.
Jedes Mal stellte sich eine geschockte Bevölkerung die Frage: Müssen die Sicherheitskräfte zuschauen und warten, bis es Tote gibt, ehe sie etwas tun können? Bundesrat und Parlament sind zu Recht zum Schluss gekommen, dass die heutige Rechtslage für eine wirksame Terrorbekämpfung nicht genügt.
Noch unter Führung von SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga gleiste das Justizdepartement kurz nach den Pariser Anschlägen ein mehrstufiges Vorgehen auf, eine Strategie zur Terrorbekämpfung. Teil dieser Strategie ist nun, als quasi letzter Schritt, das Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus, über das wir am 13. Juni abstimmen. Damit sollen Anschläge im Inland und Terrorexport ins Ausland verhindert werden.
Dem Stimmvolk sei empfohlen, diesem Gesetz zuzustimmen. Dem Staat sind geeignete Mittel und Möglichkeiten in die Hand zu geben, um in rechtsstaatlichem Rahmen Anschlägen vorzubeugen.
Ziel von Bund und Kantonen ist es, radikale, menschenverachtende Aktivitäten durch einzelne Personen in ihrem extremistisch-sozialen Umfeld zu erkennen. Bemerkt der Nachrichtendienst eine konkrete Bedrohung, soll der Gefährder an bestimmten Handlungen gehindert werden können – zum Beispiel am Besuch von Kampfsportgruppen, die wegen radikaler, extremistischer Mitglieder im Behördenfokus stehen. Die Behörden sollen den Gefährder ansprechen und notfalls polizeilichen Zwang anwenden dürfen.
Die Polizei darf auch mit dem neuen Gesetz nicht präventiv einschreiten, wenn jemand «nur» eine radikale Gesinnung hat oder einer fundamentalistischen Ideologie nachlebt. Ebenso wenig genügen radikale Sprüche am Stammtisch oder in der Bar unter dem Titel «Die sött me mal...» Polizeilich vorbeugende Massnahmen – vom regelmässigen Melden bei einer Behörde bis zum Hausarrest – sind per Gesetz an Leitplanken gebunden. Solche Massnahmen dürfen die Behörden vor allem dann anwenden, wenn es um drohende terroristische Straftaten geht.
Das Gesetz bringt zudem Verbesserungen, die bisher kaum diskutiert werden. So soll das Bundesamt für Polizei (Fedpol) neu die Möglichkeit erhalten, im Internet, insbesondere in sozialen Medien, Nachforschungen unter fremder Identität anzustellen. Im Fedpol-Fokus stehen dabei Verbindungen zwischen organisierter Kriminalität (Frauen-, Drogen-, Waffenhandel) und jihadistischen Netzwerken.
Ein Ja zum Gesetz erhöht zudem den Druck auf die Behörden, alles zu unternehmen, um Terroranschläge zu vereiteln. Sie sollten dann über alle nötigen Mittel verfügen, um Gefährder zu erkennen und ihrer rechtzeitig habhaft zu werden.
Ein Ja zum Gesetz erhöht zudem den Druck auf die Behörden, alles zu unternehmen, um Terroranschläge zu vereiteln.
Nein
Bluttaten wie in Paris, Nizza oder Berlin haben unsägliches Leid verursacht, die schrecklichen Bilder sind uns heute noch präsent. Der Ruf nach härteren Strafen, nach schärferen Präventivmassnahmen ist nach solchen Attacken verständlich. Verschiedene europäische Länder haben ihre Antiterrorgesetze in den letzten Jahren angepasst.
Bisher blieb die Schweiz von solch grausamen Attentaten verschont. Das Land muss sich jedoch für solche Eventualitäten wappnen. Die zentrale Frage ist, wie weit man die Grund- und Menschenrechte einschränken will, um mögliche Terrorakte zu verhindern. Dabei geht das neue Antiterrorgesetz sehr weit, zu weit. Es krankt an zwei Grundproblemen: der ungenauen Definition des terroristischen Gefährders und den fehlenden juristischen Mitteln, um sich gegen angeordnete Massnahmen zu wehren.
Natürlich haben Bundesrätin Karin Keller-Sutter und mit ihr die bürgerliche Mehrheit im Parlament insbesondere den islamistisch motivierten Terrorismus im Visier und nicht aufmüpfige, querulatorische Bürgerinnen und Bürger. Aber der Gesetzestext ist so schwammig formuliert, dass auch linke oder rechte Aktivisten und Aktivistinnen, selbst Politikerinnen und Politiker in den Fokus der Polizei gelangen könnten, welche entsprechende Massnahmen anordnen kann. Das weiss auch die Justizministerin, die es etwa im Interview mit dieser Zeitung unterlassen hat, die vollständige Definition einer terroristischen Aktivität darzulegen. Nicht erwähnt hat sie, dass nur schon die Verbreitung von Furcht und Schrecken als terroristische Aktivität gelten kann. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Polizei dazu tendiert, die ihr anvertrauten Mittel expansiv anzuwenden, ist grösste Skepsis angezeigt. Die letzte Fichenaffäre fand vor gut zehn Jahren statt: Der Nachrichtendienst hatte die Jahre zuvor Daten auf Vorrat angelegt, ohne diese auf ihre Relevanz hin zu prüfen.
Rechtsstaatlich problematisch ist zudem die unzureichende richterliche Kontrolle. Abgesehen vom Hausarrest können alle anderen Massnahmen – von der Verpflichtung einer verdächtigen Person, regelmässig an Gesprächen teilzunehmen, bis hin zum Rayonverbot – sofort und ohne vorgängige Begutachtung durch eine richterliche Instanz in Kraft gesetzt werden. Erst im Nachhinein können diese Anordnungen auf dem Gerichtsweg angefochten werden. Der Erfolg einer solchen Beschwerde wäre allerdings angesichts der schwammigen Definition des terroristischen Gefährders fraglich.
Kinder können bereits ab ihrem zwölften Lebensjahr in diese Polizeimaschinerie geraten.
Zudem besteht die Gefahr der Stigmatisierung, wenn die Anordnung von Antiterrormassnahmen ruchbar wird: Etwas bleibt immer hängen, auch wenn sich im Nachhinein zeigt, dass die Betroffenen unschuldig waren. Sie müssen dann selber schauen, wie sie mit möglichen beruflichen, sozialen oder psychologischen Folgen zurechtkommen. Das gilt insbesondere für Kinder: Die können bereits ab ihrem zwölften Lebensjahr in diese Polizeimaschinerie geraten. Gut möglich, dass dies im Widerspruch zur Europäischen Menschenrechtskonvention und zur UNO-Kinderrechtskonvention steht. Davon gehen zumindest zahlreiche Experten aus.
Auch wenn das Volk am 13. Juni das Gesetz ablehnt, ist die Schweiz dem Terror nicht schutzlos ausgeliefert. Das Nachrichtendienstgesetz wurde erst vor ein paar Jahren stark verschärft, und auch das schweizerische Strafgesetz gilt als sehr streng. Wer Mitglied einer Terrorgruppe ist oder diese unterstützt, wer einen Anschlag vorbereitet, wer mit Gewalt droht oder Videos von Terrorgruppen postet, kann schon heute verhaftet und verurteilt werden – und zwar bevor etwas passiert ist.
Fehler gefunden?Jetzt melden.