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Meinung

Neue Platte der Rolling Stones
Freude herrscht, aber keine Euphorie

Fans gather at night for the release of the The Rolling Stones' latest album, "Hackney Diamonds" at a music store in Geesteren, on October 20, 2023. Throughout the Netherlands, 30 record stores opened at night to sell "Hackney Diamonds", the first album since the death of drummer Charlie Watts in 2019, and the first containing original material since 2005's "A Bigger Bang". (Photo by Vincent Jannink / ANP / AFP) / Netherlands OUT
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Jean-Martin Büttner: Sie hatten sich ja Zeit gelassen. «A Bigger Bang», die letzte Studioplatte der Rolling Stones mit originalen Songs, erschien 2005, also vor 18 Jahren. Und «Blue and Lonesome», ihre Hommage an den Blues und seine afroamerikanischen Vertreter, ein achtbarer Tribut übrigens, ist auch schon 6 Jahre alt. Will man etwas streng sein, erschien ihre letzte gute Platte 1989, es war das erstaunliche Comebackalbum «Steel Wheels» mitsamt der brillanten Tournee, die darauf folgte.

Trotz all den Verzögerungen: Es gibt Gründe, sich noch auf ein neues Album der Stones zu freuen. In Interviews liessen Mick Jagger, Keith Richards und Ronnie Wood Enthusiasmus spüren, sie klangen stolz und erleichtert, man hörte ihnen an, dass sie selber mit dem neuen Material zufrieden sind.

Dazu kam der Umstand, dass ihre letztjährige Tournee mit Steve Jordan, der für den an Krebs verstorbenen Charlie Watts eingestellt worden war, zur Sensation geriet. Kritik und Publikum reagierten mit ungläubiger Begeisterung auf die Konzerte, bei denen die Stones fast so gut spielten wie zu besten Zeiten. Musik ohne ein Gramm Fett, nahe am Skelett gebaut, lakonisch kraftvoll, dazu sang Mick mit Leidenschaft und Können. Die hoffnungsvolle Jungband so um die achtzig klang fast so, als hätte sie eben angefangen. Wir hörten sie und freuten uns.

Boris Müller: Und jetzt? Was ist mit der neuen Platte mit ihren zwölf neuen Songs und Gästen wie Elton John, Stevie Wonder, Paul McCartney, Bill Wyman oder Lady Gaga? Dein Gesamteindruck?

Büttner: Ich würde sagen: kein bisschen peinlich und mit Engagement vorgetragen. Der Sound kraftvoll und doch dynamisch. Mick singt hervorragend. Die Arrangements überzeugen, die Instrumentierung auch. Die stilistische Vielfalt beeindruckt. Insofern ist die überall aufbrandende Begeisterung nachvollziehbar.

Andererseits verzaubern nur die wenigsten Songs, und es ist bezeichnend, dass zwei der vorab veröffentlichten dazugehören: «Angry» und «Sweet Sounds of Heaven».

Mit Alter hat das übrigens nichts zu tun, ich kann das höhnische Geschwätz darüber nicht mehr hören. Genauso, wie es keinen interessierte, ob Pablo Picasso, Philip Roth, Duke Ellington oder Aki Kaurismäki mit dem Rentenalter das Recht zum Malen, Schreiben Musizieren oder Filmen hätte entzogen werden müssen, dürfen auch 80-Jährige noch Musik machen. Bob Dylan, Johnny Cash oder Leonard Cohen haben bis zuletzt Grossartiges aufgenommen. Alter ist kein Qualitätskriterium, erlaubt ist, was gelingt.

Das Problem mit den neuen Liedern ist ein anderes: Zu viele von ihnen klingen nur wie gute Stones-Songs aus dem Nebenzimmer, das meiste bleibt derivativ, das wenigste wird von Dauer sein. Mein Ersteindruck nach mehrerem Hören: besser als befürchtet, aber lange nicht so gut wie fast überall behauptet. Ausserdem bleiben die Texte belanglos, und die Plattenhülle ist einfach nur scheusslich.

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Müller: Nach mehrfachem Hören sage ich frech, dass das neue Album noch weit besser gelungen ist als erwartet. Und befürchtet habe ich nichts, denn dank meiner ausgeprägten Fan-Pathologie finde ich jeweils selbst in den schauderhaften Stones-Songs immer etwas, das mir gefällt. Am meisten beeindruckt mich, wie frisch die neue Platte klingt, wie viel Drive die Band hat, wie viel rohe, ja manchmal sogar fast gefährlich klingende Energie. Und dann ist da noch Mick Jaggers Gesang: Klang er in den letzten 30 Jahren nicht selten angestrengt und nervig manieriert, singt er auf der neuen Platte relaxt und zugleich intensiv, kraftvoll und ungekünstelt. Auf der Soulballade «Sweet Sounds of Heaven» mit Stevie Wonder und Lady Gaga geben sie ihren vermutlich besten Song seit 40 Jahren. Sie klingen wirklich bei der Sache, und man merkt immer noch, wie sehr sie das Musikmachen lieben.

Überzeugend auch rotzige Stücke wie «Whole Wide World» und «Bite My Head Off» oder das sehr reduzierte, wie in alten Zeiten auf Band aufgenommene «Rolling Stone Blues» von Muddy Waters, das der Band den Namen gab. Ich habe die Stones übrigens noch nie auf einer Bühne so nervös gesehen wie damals 1981 in Chicago, als sie Muddy Waters begleiten durften.

Anderes gelingt ihnen entschieden weniger gut: Die Jagger-Ballade «Depending on You» kommt uninspiriert und abgehangen daher, «Mess It Up» drängt sich als moderne Dance-Nummer zu sehr auf. Auch hat Keith schon besser falsch gesungen als auf «Tell Me Straight».

Selbstverständlich bedient man sich auch beim eigenen Backkatalog, das darf man bei einer 60-jährigen Karriere: «Get Close» groovt sehr ähnlich wie «Slave», das Eingangsriff zu «Driving Me Too Hard» ist eine Kopie von «Tumbling Dice», und aus «Whole Wide World» höre ich «Shattered» heraus – und so weiter. Aber die Stones haben ja schon von Beginn weg bei den Besten geklaut.

Büttner: Das für mich Deprimierende an diesen neuen Songs: Sie klingen nicht nötig. Man spürt keinen Drang, keine Suche, kein Zweifel. Pose statt Haltung, Produkt statt Ausdruck. Keinen Moment höre ich den Wunsch, sich mitzuteilen. Die Gefühle klingen wie in Plastik eingeschweisst. Die Begeisterung der Musik ist aufrichtig, aber die Freude gilt der Arbeit und nicht wirklich der Musik. Das Ganze klingt für mich inszeniert, wie angemalt.

Aber das ist ja verständlich. Es ist schwierig, in einem Loire-Schloss den Blues zu haben. Jimi Hendrix sagte einmal: «If I’m free it’s because I’m always running.» Ich bin nur frei, weil ich dauernd renne. Davon kann bei ihnen keine Rede sein. Den Stones geht es darum, ein Leistungsziel zu erreichen. Immerhin: Man hört ihnen gerne zu, die Songs sind toll gemacht, und sie klingen grossartig. Ich würde mich sogar freuen, das Zeug live zu hören.

The Rolling Stones perform at a celebration for the release of their new album "Hackney Diamonds" on Thursday, Oct. 19, 2023, in New York. (Photo by Evan Agostini/Invision/AP)
Ronnie Wood,Steve Jordan,Keith Richards,Mick Jagger,Darryl Jones

Müller: Ich sehe deinen Punkt, allerdings lebten sie ja schon zu «Some Girls»-Zeiten in Loire-Schlössern und Bahamas-Residenzen. Ich blende mangelnde Relevanz und die Vergleiche mit ihren früheren Meisterwerken deshalb weitgehend aus, weil dies zum jetzigen Zeitpunkt der Bandgeschichte für mich nicht mehr bedeutend ist. Das Album ist wie eine Zugabe nach einem fantastischen Konzert, und ich höre es mit einer kindlichen Freude und durchaus auch mit einer gewissen unkritischen Dankbarkeit. «Hackney Diamonds» mag kein Meilenstein der Rockgeschichte sein, aber um bei deinem Bild des Angemalten zu bleiben: Der Band ist ein erfrischendes, stellenweise überraschendes Klanggemälde gelungen, das zwar nicht in der Tate Modern hängen, aber im Wohnzimmer über dem Sofa Freude machen wird.

Büttner: Ob man das Bild in einem Jahr noch sehen will, wird sich weisen, ich denke: eher nicht. Aber diese Band hat Gwüssgott schon genug gemacht, und für all das sind wir ihr dankbar und bleiben ihre Fans.

Persönliche Empfehlungen

Müller: «Bite My Head Off» (giftige Gitarren und McCartneys Zerr-Bass geben der Nummer ordentlich Schub), «Whole Wide World» (was für ein Riff, leider fällt der Refrain, wie bei einigen Songs, etwas ab), «Sweet Sounds of Heaven» (auch wenns mir peinlich ist, muss ich auf den Begriff «Hühnerhautmoment» zurückgreifen – genial!)

Büttner: «Angry» (ein grossartiges Riff von Keith, ein vitaler, überraschender Song, würde ich gerne live hören), «Rolling Stone Blues» (ergreifende Hommage an ihr Idol Muddy Waters), «Get Close» (dicht und fugenlos, mit Energie und Humor vorgetragen).