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Coronavirus in Südkorea
Gut ist nicht gut genug

Es geht auch anders: Solche Menschenmassen wie bei dieser Wahlveranstaltung in Seoul am Montag gibt es derzeit selten auf der Welt. Die täglichen Infektionsraten sinken dennoch in Südkorea.
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Sieben Wochen später sitzt der Psychologe Whang Sang-min in einem Café in Seoul und lächelt in die Kamera seines Smartphones. Südkorea ist hinter Grenzen verschwunden, es gelten Reisebeschränkungen. Also muss das Wiedersehen per Videoanruf stattfinden. Es ist Zeit nachzufragen, was der Professor mit seinen oft eigenwilligen Ansichten jetzt über die Corona-Krise denkt.

Die Internetverbindung ist nicht optimal, manchmal erstarrt Whangs Gesicht auf dem Bildschirm. Seine Stimme klingt klar. «Meine Meinung über die Coronavirus-Politik der Regierung hat sich nicht sehr verändert», sagt er – und lässt den Satz in ein Aber übergehen, das so etwas wie ein Lob auf die Entschlossenheit der Behörden einleitet.

Südkorea geht es langsam besser

Südkorea geht es langsam besser. Das Land war zwischendurch der zweitgrösste Coronavirus-Herd der Welt. Die Zahl der täglichen Neuinfektionen sinkt. Und auch die zweite Infektionswelle plagt Südkorea nicht so stark wie manche Nachbarstaaten. Niemand will etwas verschreien. Aber es sieht so aus, als wirkten die Schutzmechanismen.

Selbst Whang stellt fest, dass etwas ganz gut gelaufen sein muss. Vor allem im Vergleich zu Italien und Spanien oder auch zu den USA, die Zehntausende Tote beklagen. In Südkorea sind es – Stand Freitag – 230 Opfer. Aber was genau ist gut gelaufen? Mit dieser Frage beschäftigt sich jedes Land der Welt, viele Menschen suchen nach Antworten. Mit dieser Frage beschäftigt sich auch der Seelenforscher Whang Sang-min.

Südkorea-Versteher und -Erklärer

An einem trüben Freitag im Februar öffnet sich eine Tür in den dicht bebauten Hügeln des Seouler Bezirks Jongno. Eine Assistentin führt eine steile Treppe hinunter in das Studio, in dem Whang Seminare zu Karriere- und Persönlichkeitsfragen anbietet. Er sitzt am Schreibtisch eines engen Arbeitszimmers und grüsst vergnügt. Die Corona-Krise hat gerade begonnen, die Zeitungen schreiben über kaum etwas anderes. Die Behörden haben die ersten grossen Kampagnen gestartet. Am Seouler Rathaus hängt ein riesiges Plakat, das an die Hygienegrundregeln erinnert: Händewaschen, in die Armbeuge husten, Maskenpflicht an öffentlichen Plätzen und in der U-Bahn. An den Bahnsteigen steht es dann noch mal auf Videoanzeigen, es wird auch durchgesagt. Die Menschen folgen, lauter bedeckte Gesichter in den Zügen. Die Strassen sind auffällig leer.

Whang Sang-min, 57, wirkt eher amüsiert als verunsichert. Er fragt sich, ob das alles nicht zu viel der Ehre ist für dieses Virus. Hat sich Südkoreas Gesellschaft mal wieder von ihrem Temperament aufscheuchen lassen? Wenige kennen das Innenleben der Südkoreaner so gut wie Whang. Jahrzehntelang hat er sie erforscht, hat Bücher geschrieben, einen Persönlichkeitstest für Südkoreaner entwickelt. Dem Psychologieprofessor geht es gut als selbstständigem Südkorea-Versteher und -Erklärer.

Der Psychologe Whang Sang-min mag keine Gesichtsmasken. Er findet sie aber trotzdem nützlich: «Die meisten Menschen akzeptieren sie als Talisman.»

Südkorea ist eine Aufsteigernation. 51 Millionen Menschen leben auf meist bergigem Land, ohne nennenswerte Bodenschätze, umgeben von Meer und den komplizierten Nachbarn Nordkorea, China, Japan. Mit viel Fleiss hat Südkorea es geschafft, sich in dieser ungünstigen Insellage zu profilieren. Von einer Diktatur, die in den 1950er-Jahren die Folgen von Koreakrieg und jahrzehntelanger japanischer Besetzung zu überwinden hatte, hat sich das Land zu einer Demokratie entwickelt, in der in normalen Zeiten jeden Tag viele Menschen gerne und laut demonstrieren.

Südkorea ist auch eine der grössten Volkswirtschaften der Erde. Mächtige Familienkonglomerate wie Samsung oder LG haben ihre Fabriken hier, sie liefern Elektronik in die ganze Welt. Aus Südkorea kommen ausserdem Kunst und Unterhaltung, wie zum Beispiel die mit einem Oscar ausgezeichnete schwarze Gesellschaftskomödie «Parasite».

Übertreiben, um das Richtige zu tun

In der Corona-Krise gilt Südkorea als Beispiel für intelligente Krankheitsbekämpfung und Massendisziplin ohne staatliche Beschränkungen. Gefühl und Vernunft scheinen sich zu ergänzen. Dabei spielt die Tendenz zur Übertreibung eine wichtige Rolle. Wer mehr tut als nötig, erhöht die Chance, das Richtige zu tun. Diese Denkweise führt in Südkorea zu extremen Erwartungen und erbarmungslosem Druck, gerade auf junge Leute. Aber das Coronavirus braucht kein Erbarmen. Und so ist Südkoreas Antwort auf Covid-19 die: nichts unversucht zu lassen.

Schon in der frühen Phase der Krise standen Temperaturscanner am Eingang von Einkaufszentren. Seit einigen Wochen gilt eine strenge Schutzmaskenpflicht in öffentlichen Gebäuden: Wer keine trägt, darf nicht rein. Als es Mitte März in einem Seouler Callcenter zu einer Masseninfektion kam, beliess es die Stadtregierung nicht bei den üblichen Quarantänemassnahmen. Zwei Tage lang wurden sämtliche U-Bahn-Züge der Linie 1 desinfiziert und auch der Bahnhof Sindorim mit Steigen, Treppen, Durchgängen, weil dort viele Mitarbeiter des Callcenters durchliefen. Zudem legte die Regierung mit ihrem nationalen Zentrum für Seuchenkontrolle ein Testprogramm auf, das bis dahin beispiellos war.

Es gibt keine Ausgangsbeschränkungen, aber überall Schutzmassnahmen, wie hier in der Kantine einer Kreditkartenfirma.

Verallgemeinerungen können in die Irre führen. Aber wenn es um Koreaner geht, sind sich Forschung und Volksmund in einigen Punkten einig. Sie seien eher emotional. Persönliche Beziehungen seien ihnen wichtiger als der demütige Dienst vor der Obrigkeit – in diesem Punkt unterscheiden sie sich sehr von ihren reservierten Nachbarn, den Japanern. Koreaner können sehr laut werden, wenn sie finden, dass eine Regel jemandem Nachteile bringt. Aber sie können auch sehr folgsam sein, wenn sie Vorgaben einsehen.

«Erinnern Sie sich, wie ich sagte, die Masken seien das Symbol eines Glaubens?», sagt Whang Sang-min beim Videoanruf. Als Privatperson fehlt ihm dieser Glaube. So trägt er in der U-Bahn keine Maske. Als Psychologe wiederum kann Whang den Masken etwas abgewinnen. «Ich glaube, die meisten Menschen akzeptieren sie als Talisman.» Als etwas, das Sicherheit verspricht. Whang findet das heilsam. Er streitet deshalb nicht über Masken. Wenn er in ein öffentliches Gebäude muss, zieht er sich allerdings eine über. «Manchmal ist es vernünftig, den Regeln zu folgen, auch wenn ich damit nicht einverstanden bin.»

Lehren aus der Mers-Krise

Die Einsicht in den Ernst der Lage macht das Land stark. Oder ist es Angst? Südkorea hatte schon einmal eine Corona-Krise, vor fünf Jahren. Das «Middle East Respiratory Syndrome», kurz Mers, breitete sich damals in Spitälern aus. Es war nicht so ansteckend wie Covid-19, aber gefährlich für alle, die es bekamen. 186 Fälle, 38 Tote. Südkoreas Regierung war damals nicht vorbereitet auf diese Krankheit, sie hielt Informationen zurück und wirkte leichtfertig, im Grunde nicht südkoreanisch. Zurück blieben viel Misstrauen und die Lehre, dass ein Staat sich nie mehr so überrumpeln lassen darf.

Experten und Regierung sind nicht frei von dem Mers-Trauma. Seit der Mers-Krise von 2015 hat die Regierung die Vollmacht, ihre Bevölkerung bei Epidemien online zu überwachen. Das Land eignet sich dafür besonders gut, es ist fast flächendeckend mit 4G- oder 5G-Mobilfunkmasten ausgestattet, und die Menschen leben zu einem grossen Teil online. Fast jeder zahlt fast alles bargeldlos. Im neuen System zur Covid-19-Bekämpfung arbeitet die Regierung mit drei Telekommunikations- und 22 Kreditkartenunternehmen zusammen. Mit deren Daten können die staatlichen Gesundheitsdetektive jedem Mobilfunk- und Kreditkartennutzer nachspüren, den sie als Kontaktperson eines Covid-19-Infizierten ausgemacht haben. Das hilft bei der Früherkennung und zeigt Übertragungswege. Ausserdem kann man mit den Daten Apps speisen, die Bürger darüber informieren, wo Ansteckungen wahrscheinlicher sind. Ein Traum für Seuchenfahnder.

Im Februar kam es in Daegu zu einer Masseninfektion, daraufhin wurde überall in der Stadt – wie hier auf dem Gemüsemarkt – desinfiziert.

Aber geht die Virusbekämpfung damit nicht zu weit? Was ist mit Freiheit? Was ist mit Datenschutz? «Südkoreaner wissen nicht, was sie tun», sagte Whang Sang-min beim Treffen im Februar, «Überleben ist unser einziger Wert.» Es sollte eine Feststellung sein, keine Kritik. Damit sagte er aber auch, dass ihm etwas fehlt am Vorgehen der südkoreanischen Behörden: ein Sinn, der über reinen Aktionismus hinausgeht, ein Plan mit einem Ziel.

Mittlerweile – viele Gedanken und Nachforschungen später – sieht Whang einen Sinn. Die vielen Tests, die umfassende Fahndung, die Maskengebote, die riesigen Plakate, die dringenden Empfehlungen ohne polizeilichen Druck, dieser ständige Schrei des Staates, dass er sich kümmere – das ist die Sprache, die die Menschen in Korea verstehen. Und was man versteht, gibt ein Gefühl von Sicherheit. Und ein Gefühl von Sicherheit ist gesund. Whang glaubt an die Psychoimmunologie.

Whang leidet nicht sehr unter der Krise. Er ist meistens allein. Forscht. Schreibt. Onlineseminare passen in die Zeit. Whang sieht, wie das Leben allmählich in die Stadt zurückkehrt. Mehr als 100 Personen mussten nach ihrer Entlassung noch einmal wegen Covid-19 in Behandlung. Schlimm? Aus dem Zentrum für Seuchenkontrolle heisst es, die Rückfälle hätten wohl damit zu tun, dass alte Infektionen wieder aktiv geworden seien. Es handle sich nicht um Neuinfektionen. Zwei Dutzend neue Fälle pro Tag wurden zuletzt registriert. Die Angst und die Übertreibung, die sind noch da. Aber insgesamt hat Whang das Gefühl, dass Südkorea ganz gut dasteht.