Massnahmen gegen Armut in SpanienGrundeinkommen soll die grösste Not lindern
Die Regierung will gegen Armut vorgehen. Die Hungerschlangen sind in allen grossen Städten Spaniens das sichtbarste Zeichen der Corona-Krise geworden.
Jeden Morgen stellt sich Julián, 37 Jahre alter Madrilene, in die Hungerschlange vor der Essensausgabe Ave María, die die katholische Kirche im Zentrum der spanischen Hauptstadt betreibt, schräg gegenüber dem krisenbedingt geschlossen Teatro Calderón. Julián lebte vor der Corona-Krise von Englisch- und Französischunterricht, wie er einem Reporter der BBC dieser Tage erzählte. Dann seien ihm wegen des Lockdown von einem Tag auf den auf den anderen alle Kunden weggebrochen: nicht nur wegen der Abstandsbeschränkungen, sondern auch, weil eben alle Spanier auf einmal vom Stopp des Wirtschaftslebens betroffen waren. An bezahlten Sprachkursen spart man dann zuerst.
Jetzt steht er jeden Morgen hier vor der Essensausgabe der Real Congregación de Esclavos del Dulce Nombre de María, der Königlichen Kongregation der Sklaven des Süssen Namens von Maria, die seit 1611 soziale Aufgaben erfüllt. Julián bekommt nach langer Warterei einen Plastiksack mit Brot, Obst, Joghurt, einem Sandwich und einer Dose Makkaroni in Tomatensosse. Das hilft gegen den Hunger, ausserdem werde man hier nicht viel gefragt, wer man sei und woher man komme, sagt er. Das wiederum hilft gegen die Scham.
Auf Familienhilfe angewiesen
Damit die Menschen in der Krise nicht nur auf die Barmherzigkeit der Kirche und anderer Sozial- und Freiwilligendienste angewiesen sind, hat die sozialistisch geführte Regierung in Madrid ein Grundeinkommen eingeführt. Am 26. Juni würden 75’000 Haushalte mit insgesamt 255’000 Personen im ganzen Land die erste Zahlung erhalten, hat Ministerpräsident Pedro Sánchez mitgeteilt. Das Grundeinkommen ähnelt der Sozialhilfe, die es in Spanien bisher nicht gab. Nach Ende des Bezugs von Arbeitlosengeld standen die Menschen in der Regel mittellos da und waren auf Familienhilfe angewiesen, die die Spanier in früheren Krisen, etwa nach dem Platzten der Immobilienblase in den frühen Zehnerjahren vor dem Schlimmsten bewahrt hat. Doch an Corona scheitert selbst diese Form der Notversorgung, denn in vielen Familien gibt es niemanden mehr, der Geld verdient.
Ausdruck dieses Zustandes sind die «colas de hambre», die Hungerschlangen, die es in allen grossen Städten Spaniens gibt und die das sichtbarste Zeichen der Krise geworden sind. Dort stehen Einwanderer, sozial schwache Familien, ehemalige Kellner, pleitegegangene Barbesitzer, alleinerziehende Mütter, junge Akademiker wie Julián. Kilometerlang ziehen sich manche dieser Schlangen hin.
760’000 Jobs verloren gegangen
Die neuen Hilfen betragen zwischen 462 und 1015 Euro pro Monat je nach Zusammensetzung und Grösse des Haushalts. Anspruchsberechtigt sind Personen zwischen 23 und 65 Jahren, die seit mindestens drei Jahren einen selbstständigen Haushalt führen, mindestens ein Jahr sozialversicherungspflichtig waren und deren Einkommen pro Person im Haushalt unter 230 Euro im Monat liegt. Sánchez betonte: «Mehr als die Hälfte der Begünstigten werden Minderjährige sein.»
Das neue Grundeinkommen, das ihnen helfen soll, war Teil des Koalitionsvertrages zwischen den Sozialisten und den Linksalternativen von Unidas Podemos, die diese Forderung im Wahlkampf 2019 vertreten hatten. Die Sozialisten waren zuerst skeptisch, weil sie Einwände aus Brüssel erwarteten. Man fürchtet, erklären zu müssen, woher die 3,5 Milliarden Euro für die neue Lebenshilfe kommen sollen angesichts einer zusammenbrechenden Wirtschaft und ausbleibenden Steuereinnahmen.
Doch das Hungerproblem beschleunigte die Beschlussfassung. Die Regierung geht davon aus, dass 850’000 Haushalte Anspruch auf die neuen staatlichen Hilfen haben werden. Das entspricht etwa 2,3 Millionen der knapp 47 Millionen Einwohner Spaniens. Das Bruttoinlandprodukt Spaniens wird dieses Jahr wegen der Pandemie nach Schätzung der Regierung um mehr als neun Prozent schrumpfen. Erwartet wird zudem ein Anstieg der Arbeitslosenrate von 13,8 Prozent Ende 2019 auf 19 Prozent in diesem Jahr. Insgesamt sind in der Corona-Krise bislang rund 760’000 Jobs verloren gegangen.
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