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Bericht zur Grenfell-Katastrophe
Firmen­bosse sollen Feuer­gefahren «systematisch» verschwiegen haben

Police man a security cordon as a huge fire engulfs the Grenfell Tower early June 14, 2017 in west London. The massive fire ripped through the 27-storey apartment block in west London in the early hours of Wednesday, trapping residents inside as 200 firefighters battled the blaze. Police and fire services attempted to evacuate the concrete block and said "a number of people are being treated for a range of injuries", including at least two for smoke inhalation. (Photo by Daniel LEAL / AFP)
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Es war der schlimmste Brand der britischen Nachkriegsgeschichte und kostete 72 Menschen das Leben. Sieben Jahre später ist jetzt der offizielle Untersuchungsbericht zum Grenfell Tower veröffentlicht worden. Er erhebt schwere Anklagen gegen Regierung, Gemeinderäte, Baufirmen, Aufsichtsbeamte, Architekten und Feuerwehr.

Den Überlebenden hat sich das Inferno eingebrannt für alle Zeiten. Die verzweifelten Hilferufe der zwölfjährigen Jessica Ramirez lassen ihre Familie und die früheren Nachbarn nie wieder los.

«Jene Nacht hat unser aller Leben zerschmettert», so erklärt es Jessicas Tante Sandra. Jetzt, sieben Jahre später, sei es allerhöchste Zeit, dass die Schuldigen zur Rechenschaft gezogen würden: «Die Leute, für die Profit wichtiger war als die Sicherheit anderer Menschen, müssen endlich hinter Schloss und Riegel.» Anders, ist sie überzeugt, gehe es nicht.

Denn Jessica war eins der 72 Opfer, die es nicht lebend aus dem brennenden Wohnhochhaus schafften in der Nacht vom 13. auf den 14. Juni 2017. Zusammen mit anderen Bewohnern des Blocks war sie in heller Panik im Treppenhaus nach oben gestürmt, um sich in Sicherheit zu bringen, vielleicht im obersten Geschoss oder auf dem Dach.

Giftigen Dämpfe erreichten Bewohner innert Minuten

Aber Sicherheit gab es keine. Binnen 18 Minuten stand das 24-stöckige Gebäude, nachdem in einer der unteren Wohnungen ein Brand ausgebrochen war, total in Flammen. Ohne zweites Treppenhaus, ohne funktionierende Feuertüren, ohne Sprinkleranlagen waren die Fliehenden verloren. Sie fanden sich in Minutenschnelle von giftigen schwarzen Dämpfen eingehüllt, die durch Fenster und Lüftungsschächte und über die Treppe in die Wohnungen drangen.

Damals ging das Feuer im Stadtteil Kensington in West-London als die schlimmste Brandkatastrophe der Nachkriegszeit in die britische Geschichte ein. Noch am Morgen danach schwelte der Wohnturm, der 302 Familien beherbergt hatte, grauenvoll und weitherum sichtbar vor sich hin.

Wenige Tage später schon war klar, was das Unglück verursacht hatte. Die Aluminiumverkleidung des Gebäudes hatte es zusammen mit dem ebenso leicht entflammbaren Isolationsstoff aus Plastik, dem Polyethylen, den Flammen erlaubt, sich blitzschnell auszubreiten in jener Nacht.

The remains of Grenfell Tower, a residential tower block in west London which was gutted by fire, are pictured against the London skyline on June 16, 2017. The toll from the London tower block fire has risen to at least 30 people dead and the flames have now been extinguished, police said on June 16, 2017. (Photo by CHRIS J RATCLIFFE / AFP)

An Sicherheitsvorrichtungen fehlte es allenthalben. Warnungen hatten die Behörden ignoriert. Ausreichende Kontrollen durch die Gemeinde oder die Regierung hatte es keine gegeben. Und die Feuerwehr hatte, in fataler Fehleinschätzung der Lage, den Bedrängten geraten, in ihren Wohnungen zu bleiben und auf Hilfe zu warten – die niemals kam.

Regierung habe von den Gefahren «genau gewusst»

Sir Martin Moore-Bick, ein pensionierter Richter des höchsten Berufungsgerichts Englands, des Court of Appeal, wurde in der Folge mit der Untersuchung der Katastrophe beauftragt. Seinen Schlussbericht hat der Ex-Richter nach Tausenden von Anhörungen nun in einer 1700-seitigen Dokumentation vorgelegt.

Und der Report hält nicht hinterm Berg mit seinen Urteilen. Die britische Regierung habe schon ein Jahr vor der Katastrophe «genau gewusst», welche Gefahr von den Aussenfassaden entsprechender Wohnblocks ausgegangen sei, aber «nichts unternommen», befand Moore-Bick. Vorschriften für die Bauindustrie seien von David Camerons damaligem Wohnungsbauminister Eric Pickles auf Drängen der grossen Unternehmen radikal gelockert worden, obwohl es jede Menge Warnungen gegeben habe.

Die Firmenbosse selbst hätten die Wahrheit über die Gefahren ihrer Materialien «systematisch» verschwiegen, heisst es im Grenfell-Report weiter. Lizenzen seien ausgestellt worden unter zweifelhaften Umständen. Gut bezahlte Architekten hätten sich schuldig gemacht.

Im Gebäude lebten die Schwächsten der Gesellschaft

Kensingtons Gemeindeverwaltung und der von ihr eingesetzte Hausverwaltungs­ausschuss hätten sich beharrlich geweigert, Mieter­ängste zur Kenntnis zu nehmen. Statt kostspielige Sicherheitsmassnahmen anzuordnen, hätten sie Kritiker als «militante Störenfriede» abgetan.

Und nach der Katastrophe, dokumentiert der Bericht weiter, seien die Überlebenden auf schimpflichste Weise «sich selbst überlassen worden». Überraschend kam das für die Betroffenen keineswegs. Nicht zuletzt habe es damit zu tun, glauben sie, dass in den am meisten gefährdeten Wohnblocks Grossbritanniens «die Schwächsten der Gesellschaft» lebten. Im Grenfell Tower zum Beispiel waren 85 Prozent derer, die dort in den Flammen umkamen, Angehörige ethnischer Minderheiten – oft Immigranten mit wenig Geld.

epa06030479 Messages of condolence are left near where broke out at Grenfell Tower, a 24-storey apartment block in North Kensington, London, Britain, 15 June 2017. London Fire Brigade (LFB), said it took 40 fire engines and 200 firefighters to put out the blaze that broke out at around 1:00 am GMT on 14 June, and which took more than 24 hours to bring under control. According to reports, 12 people were confirmed dead in the fire and the cause of the blaze remains unknown.  EPA/FACUNDO ARRIZABALAGA

Im Unterhaus stimmte der neue Labour-Premier Keir Starmer den Vorwürfen zu, mit ungewöhnlich starken Worten. Grenfell stelle die Frage, «was für ein Land» das Vereinigte Königreich sei, sagte der Regierungschef. Ob es ein Land sei, in dem «die Stimmen von Leuten aus der Arbeiterklasse und der nicht weissen Bevölkerung ignoriert und abgetan» und «Menschen im sozialen Wohnungsbau in einem der reichsten Teile unseres Landes wie zweitklassige Bürger behandelt werden».

Auf jeden Fall wolle er sich, sagte Starmer, im Namen des Staates bei den Opfern und ihren Familien «zutiefst» entschuldigen: «Das hätte nie passieren dürfen, dass das Land sich seiner grundlegendsten Pflicht des Schutzes seiner Bürger entzieht.» Die Durchsetzung rascher Sicherheitsvorkehrungen soll nun, versprach der Premierminister, entscheidend beschleunigt werden durch seine Administration.

Auch Britinnen und Briten, die fernab von Grenfell leben, können das nur hoffen. Letzten amtlichen Erhebungen zufolge sind nämlich bisher nur 1350 Gebäude, die höher als drei Stockwerke sind, von ihrer superleicht entflammbaren Aussenverkleidung befreit worden. Insgesamt hat man aber inzwischen 4630 solcher Bauten gezählt. Anderen Berechnungen zufolge sollen landesweit eine halbe Million Menschen betroffen sein.

Es könnte zu Dutzenden Anklagen kommen

Unterdessen hat die Metropolitan Police, die Londoner Polizei, mit ihrer eigenen Durchsicht des Grenfell-Reports begonnen. Bisher stehen 19 Firmen und Organisationen und 58 Individuen auf der Liste mit denjenigen, die im Zusammenhang mit Grenfell krimineller Aktionen beschuldigt werden und die angeklagt werden könnten.

Beklommen schaute derweil am Mittwoch in Grossbritannien alles wieder auf das weiss umhüllte, mit grünen Herzen geschmückte Monument in West-London, das man zum Gedenken an die Katastrophe und ihre Opfer hat stehen lassen und das niemand abzureissen wagt.