Leitartikel zu Glarner-UrteilWir müssen über Rechtsextremismus reden
Man darf SVP-Politiker Andreas Glarner als Rechtsextremisten bezeichnen. Dieses Gerichtsurteil führt hoffentlich dazu, dass wir uns ein paar unbequeme Fragen stellen.
Für einmal muss man ihm danken. Ihm, dem Kneipenschläger der Schweizer Politik, der sich nie äussert, ohne jemanden persönlich zu attackieren oder zu beleidigen. Der im Internet gegen Minderheiten wütet, Jugendliche mit ausländischen Namen blossstellt und einen Twitter-Mob auf vermeintlich linke Lehrerinnen hetzt. Andreas Glarner, SVP-Nationalrat aus Oberwil-Lieli AG, ist fürwahr kein Mann des gehobenen Salondiskurses – doch diesmal hat er, wenn auch unfreiwillig, eine wichtige Debatte in Gang gebracht.
Im Dezember 2022 wurde Glarner von einem Journalisten auf Twitter als «Gaga-Rechtsextremist» bezeichnet. Das wäre längst vergessen, hätte Glarner nicht gegen den Journalisten Anzeige erstattet. Die Bezeichnung Rechtsextremist empfand der Politiker als Verunglimpfung, und er wollte den Autor entsprechend bestraft sehen. Diese Woche nun bekam Glarner von einem Aargauer Gericht eine Abfuhr. Die Wortwahl des Journalisten sei strafrechtlich nicht zu beanstanden. Sie stütze sich im Gegenteil «auf eine Vielzahl ernsthafter Gründe». Glarner will das Urteil weiterziehen.
Damit stellen sich zwei Fragen. Ist, erstens, das Urteil zu begrüssen? Und ist, zweitens, Andreas Glarner also ein Rechtsextremist? Sollen wir ihn so betiteln – hier, jetzt und an dieser Stelle?
Heikle Konsenskultur
Die Antwort auf die zweite Frage lautet: nein. Ob man einen extrem rechten Politiker als Rechtsextremisten bezeichnen will, ist mehr als ein semantisches Problem. Es geht im Kern um den Politikstil, den wir uns wünschen. Krawallanten wie Glarner sind hierzulande zum Glück die Ausnahme: Im Vergleich mit Deutschland oder den USA verlaufen politische Debatten bei uns sehr gesittet, unter weitgehendem Verzicht auf persönliche Schmähungen. Diese Konsenskultur ist es, die als Kitt zur Stabilität unseres direktdemokratischen Gebildes beiträgt.
Diese Konsenskultur birgt aber auch eine Gefahr. Gerade weil wir mit dem Vorwurf des Rechtsextremismus überaus zurückhaltend umgehen, tendieren wir zum Selbstbetrug: Das Problem existiert bei anderen, nicht aber bei uns.
Das Urteil aus dem Aargau ist darum ausdrücklich zu begrüssen. Positiv ist schon, dass es die Meinungs- und indirekt auch die Medienfreiheit stärkt. Vor allem aber bringt es uns hoffentlich ins Grübeln: Wie oft haben wir in den letzten Jahrzehnten über Vorlagen abgestimmt, die mit der Menschenrechtskonvention kollidierten – und darum anderswo vielleicht sogar als rechtsextrem taxiert würden? Einige waren erfolgreich, wie die sogenannte Ausschaffungsinitiative. Die Schweiz wurde dadurch nicht zum Unrechtsstaat. Das hängt aber auch damit zusammen, dass das Parlament bei der Umsetzung – gegen den Protest der Initianten – gewisse Schranken und Sicherungen einbaute.
Ins Bewusstsein ruft das Urteil hoffentlich auch beunruhigende Tendenzen innerhalb der grössten Schweizer Rechtspartei: Andreas Glarners SVP. Viele Jahre lang hat die SVP, was ihr hoch anzurechnen ist, zu zweifelhaften Kräften im Ausland sorgfältig Distanz gehalten. Diese Vorsicht ist geschwunden, seit einigen Jahren knüpft man Netzwerke über die Grenzen hinweg. Als Ungarns ultrarechter Autokrat Viktor Orban jüngst auf Einladung von SVP-Publizist Roger Köppel in Zürich referierte, machten ihm die Parteioberen fast in corpore die Aufwartung.
Die Mordideologie
Rechtsextremismus höhlt die Demokratie aus und beraubt Minderheiten ihrer Rechte. In seinen krassesten Ausprägungen wird er zur Mordideologie. Wo «rechtsbürgerliche» Positionen enden, wo «Rechtspopulismus» beginnt und schliesslich in eigentlichen Extremismus übergeht: Diese Grenzen wird man nie ganz eindeutig ziehen können. Mancherorts überdreht die Debatte freilich auch. In Deutschland werden Forderungen nach einer etwas repressiveren Migrationspolitik zuweilen gar vorschnell mit dem Extremismusvorwurf geahndet.
Dass aber der Rechtsextremismus europaweit an Kraft gewinnt, dass seine Exponenten zunehmend koordiniert agieren – das ist vernünftigerweise nicht zu bestreiten. Naiv wäre es, zu glauben, die Schweiz bleibe von diesen Entwicklungen gänzlich unbeeinflusst. Wir brauchen mehr Debatte über das Phänomen, wir brauchen ein stärkeres Bewusstsein für die Verletzlichkeit von Demokratie und Menschenrechten. Nicht zuletzt auch innerhalb der SVP, wo längst nicht alle auf Glarner-Linie liegen.
Es wäre wünschenswert, dass das neue Urteil hierzu beitragen kann. Denn die nächsten Angriffe auf die Rechte von Minderheiten kommen bestimmt, auch hierzulande. Sie sind bereits angekündigt.
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