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Italien ist empört über Frankreich
Gibt es gute und böse Terroristen?

Auch ein Opfer der Roten Brigaden: Das italienische Parlament gedenkt 1998 des ermordeten Politikers Aldo Moro. 
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«Ohrfeige für Italien», titeln zwei grosse italienische Zeitungen, und diese Wahrnehmung ist breit geteilt, gerade in dieser dramatischen, nie geklärten Angelegenheit. Die Italiener sind empört darüber, dass ein Pariser Berufungsgericht sich dagegen entschieden hat, zehn frühere Mitglieder von terroristischen Organisationen nach Italien auszuliefern, damit sie in ihrer Heimat ihre Haftstrafen absitzen.

«In diesem Entscheid», schreibt zum Beispiel der Kommentator der linken «Repubblica», «schwingt etwas Verstörendes, etwas Erniedrigendes mit.» Es würden da in Frankreich Personen geschützt, die sich in den bleiernen Jahren des Terrors in Italien blutiger Vergehen schuldig gemacht hätten. «Und das ausgerechnet an dem Tag, an dem mit extremer Strenge und dem gesamten Rüstzeug des Strafrechts gegen den Terrorismus über Salah Abdeslam und seine ‹Vereinigung von terroristischen Verbrechern› für das islamistische Blutbad im November 2015 in Paris gerichtet wurde.»

Natürlich soll man den Anschlag auf die Konzertbesucher im Bataclan und auf die Menschen in den Pariser Cafés nicht mit der Terrorphase der 1970er- und 1980er-Jahre in Italien vergleichen – auch den juristischen Umgang damit nicht. Andererseits ist die Versuchung in diesem Fall besonders gross.

Das Narrativ der Franzosen war schon immer falsch – und es begründete eine schräge Kulanz.

Als vor etwas mehr als einem Jahr die französische Polizei in der konzertierten Operation «Rote Schatten» zehn Italiener festnahm, acht Männer und zwei Frauen, alle zwischen 61 und 78 Jahre alt, die schon seit vielen Jahrzehnten in Frankreich lebten, hoffte man in Italien, es ende dank dem entschlossenen Handeln von Emmanuel Macron eine alte Ungerechtigkeit. So jedenfalls empfanden die Italiener die sogenannte Doctrine Mitterrand, benannt nach dem früheren sozialistischen Präsidenten Frankreichs. François Mitterrand bot Mitgliedern linksextremistischer Gruppen politisches Asyl an, sofern sie kein Blut an den Händen hatten, den Waffen entsagt hatten und nicht schon rechtmässig verurteilt worden waren. Das waren die Kriterien – in der Theorie.

Unter dem Deckmantel der Doktrin setzten Dutzende Terroristen über, um der italienischen Justiz zu entkommen. Es waren auch solche dabei aus dem Dunstkreis der Roten Brigaden, mit Blut an den Händen. Sie bauten sich ein neues Leben auf, höchstens halb klandestin, arbeiteten als Kellner, Hausmeister, Klempner.

Krimiautor und verantwortlich für mehrere Morde: Cesare Battisti nach seiner Verhaftung. 

Einer von ihnen, Cesare Battisti, einst Anführer von den «Proletari Armati per il Comunismo» und verantwortlich für mehrere Morde, wurde Krimiautor, ein Liebling der Pariser Intellektuellenszene. Sie hielt ihn und andere für politische Verfolgte. In Italien, sagte man sich damals in diesen Kreisen und bis ganz hinauf in die französische Staatsspitze, herrsche ein faschistisches Regime, das sich für den roten Terrorismus räche. Das war schon in jener Zeit ein falsches Narrativ, es ist es immer geblieben.

Battisti war zum Symbol der schrägen Kulanz der Franzosen geworden und genoss seine «Berühmtheit»: Er lebte sie mit arroganter Selbstgefälligkeit aus. Bis er vor einigen Jahren in Bolivien verhaftet und nach Italien gebracht wurde. Nun sitzt er in Haft. Die Operation «Rote Schatten» galt also als Zäsur, als eine Art Paradigmenwechsel. «Hätten wir Franzosen akzeptiert», fragte Frankreichs Justizminister Éric Dupond-Moretti in diesem Zusammenhang einmal rhetorisch, «wenn sich ein Terrorist aus dem Bataclan nach Italien abgesetzt und dort vierzig Jahre lang unbehelligt gelebt hätte?» Da war alles drin, auch das Eingeständnis von Frankreichs politischer Bigotterie.

Italiens Justiz verurteilte ihn zu einer Haftstrafe von 22 Jahren: Giorgio Pietrostefani.

Zu den zehn Personen, die nun doch nicht nach Italien ausgeliefert werden sollen, gehört Giorgio Pietrostefani, sein Name ist von allen der prominenteste. In den Terrorjahren war Pietrostefani einer der führenden Köpfe von «Lotta Continua» gewesen. Italiens Justiz verurteilte ihn zu einer Haftstrafe von 22 Jahren, weil sie ihm vorwirft, den Auftrag zum Mord am jungen Mailänder Polizeikommissar Luigi Calabresi gegeben zu haben, im Mai 1972.

Nun ist Pietrostefani 78 Jahre alt und schwer krank, er hat den Vorwurf immer abgestritten. Nach der Verhaftung vor einem Jahr wurde er sofort wieder freigelassen und unter Aufsicht gestellt, wie alle anderen auch. Mario Calabresi, Sohn des getöteten Kommissars und berühmter Journalist, sagte nun nach dem Gerichtsentscheid, er habe schon lange vergeben, um in Frieden sein Leben leben zu können: «Ich weiss auch nicht, ob es viel Sinn ergibt, wenn Pietrostefani ins Gefängnis muss – er ist alt und krank.»

So sieht es allerdings nur er. Andere Opferangehörige aus der Zeit des Terrors, die von den italienischen Medien interviewt wurden, fühlen sich verspottet, der Schmerz vom Verlust werde nun neu angefacht. So schliessen die Wunden wohl nie. Die italienische Politik ist für einmal recht einhellig, von rechts bis links: Alle Parteien halten das Urteil, je nach Hang für Kraftworte, für «schändlich» oder «bedauerlich».

Nun gäbe es noch eine Rekursmöglichkeit – aber Italien kann nur warten und zuschauen. 

Italiens Justizministerin Marta Cartabia gab sich zumindest «überrascht», erinnerte dann aber an die markanten Worte des Amtskollegen aus Paris und sagte: «Ich respektiere den Entscheid der französischen Justiz, die völlig unabhängig handelt. Ich warte jetzt auf die Urteilsbegründung.»

Offiziell ist diese noch nicht. Doch aus Justizkreisen ist zu hören, die Richter seien zu dem Schluss gelangt, dass die Prozesse in Abwesenheit gegen die zehn Personen in Italien Prinzipien der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt hätten. Sie übernehmen also die Linie der Verteidigung.

Zieht der Procureur général, wie im französischen Justizsystem der höchste Vertreter der Staatsanwaltschaft heisst, das Verfahren nun nicht weiter an die nächsthöhere Instanz, nämlich an den Kassationshof, dann können die zehn Italiener für immer in Frankreich bleiben. Fünf Tage Zeit hat der Generalprokurator dafür, bis Anfang nächster Woche. Und Italien kann nur warten und zusehen.