Gesundheitsdirektorin im InterviewWarum hat Appenzell Innerrhoden die tiefsten Prämien, Frau Rüegg?
Sind die Menschen im Appenzell robuster? Oder helfen die Gesundbeter? Monika Rüegg Bless über das Geheimnis der geringen Kosten.
Gratuliere, Frau Rüegg, Ihr Kanton ist das grosse Vorbild bei den Gesundheitsausgaben.
Das ist leider nicht immer so. Letztes Jahr hatten wir prozentual den zweithöchsten Anstieg aller Kantone. Aber natürlich von einem sehr tiefen Niveau aus.
Appenzell hat die mit Abstand tiefsten Krankenkassenprämien der Schweiz.
Das hat aber nicht unbedingt mit mir zu tun. Der wichtigste Grund ist unsere ländliche Prägung. Der Kanton hat sich zwar gewandelt in den letzten Jahren, aber noch immer gilt: Man kennt einander, man schaut zueinander, man hilft einander. Ist jemand krank, greift man zuerst nach einem Hausmittelchen, macht einen Bölle-Wickel oder gurgelt Salbei-Tee, bevor man das kostenintensive Gesundheitssystem aufsucht.
Die Appenzeller gehen nicht gerne zum Arzt?
Das würde ich nicht sagen. Aber Eigenverantwortung ist bei uns nach wie vor wichtig. Wir haben ein sehr gutes Angebot an Drogerien und eine Apotheke, die zum Teil auch eigene Produkte produzieren und sehr gut beraten. In vielen Fällen, wie etwa bei einem Pfnüsel, sind ärztliche Konsultationen deshalb gar nicht nötig.
Die Dichte an ambulanten Ärzten ist in Appenzell Innerrhoden mit 1,04 pro 1000 Einwohner nicht einmal halb so hoch wie im Schweizer Durchschnitt.
Trotzdem sind wir sehr gut versorgt mit Hausärzten. Das ist meiner Meinung nach zentral, um die Kosten im Griff zu behalten. Der Allgemeinmediziner kennt seine Patienten und kann die Sachlage entsprechend gut einordnen. In den Städten geht man eher gleich auf den Notfall oder zu Spezialisten, das ist sehr teuer.
Vor zwei Jahren stimmten zwei Drittel der Appenzeller gegen den Weiterbetrieb des eigenen Spitals. Das ist aussergewöhnlich.
Die Fakten waren ziemlich klar: Die Bevölkerung nahm das Angebot immer weniger in Anspruch, sondern ging lieber ins grosse Kantonsspital St. Gallen, nach Herisau oder in andere Kliniken in der Umgebung. Ebenso fiel unser Kooperationspartner weg. Ein Weiterbetrieb ergab ökonomisch und ohne die nötigen Fachkräfte keinen Sinn mehr.
Das ist auch an vielen anderen Orten so. Trotzdem sträubt sich die Bevölkerung meistens mit allen Mitteln gegen eine Schliessung.
Unsere Argumente haben überzeugt. Der St. Galler Gesundheitsdirektor ist Arzt, ich komme aus der Pflege und habe schon an grossen Institutionen gearbeitet – man attestiert uns hohes Fachwissen und vertraut uns entsprechend.
Sind die kleinen Kantone, die keine grosse Infrastruktur bereithalten müssen, nicht einfach Trittbrettfahrer?
Nein, es ist ein Geben und Nehmen. Die drei Ostschweizer Kantone Appenzell Innerrhoden, Ausserrhoden und St. Gallen planen die aktuelle stationäre Gesundheitsversorgung zusammen. Auch wenn wir kein eigenes Spital mehr haben: Wir bezahlen unseren Anteil, reden dafür auch mit. Das ist eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Auch an der Ausbildung von angehenden Medizinerinnen und Medizinern beteiligen wir uns, sogar mit einem relativ hohen Betrag.
«Das Wissen um die Wirkung gewisser Pflanzen ist vielerorts noch vorhanden.»
Die Krankenkassenprämien der kleinen Kantone sind also nicht so tief, weil sie Kosten auf die grossen abwälzen können?
Nein. Für die steigenden Gesundheitskosten gibt es drei hauptsächliche Ursachen. Erstens: Die Gesellschaft wird immer älter. Davon sind auch wir betroffen. Zweitens: Das von der Grundversicherung bezahlte Angebot ist sehr umfassend. Bei uns nimmt man das vielleicht etwas weniger in Anspruch. Und drittens: die Eigenverantwortung. In Appenzell ist sie noch immer hoch.
In den Stadtkantonen Basel und Genf sind die Krankenkassenprämien 80 Prozent höher als bei Ihnen. Allein an der Selbstverantwortung kann das nicht liegen.
Man weiss im Gesundheitswesen: Angebot schafft Nachfrage. In den urbanen Gebieten ist das Angebot gross, die Infrastruktur muss amortisiert werden. Das schafft Fehlanreize. Bei uns haben wir in keinem Bereich eine Überversorgung. Die Herausforderung in Zukunft wird für uns eher sein, eine Unterversorgung in der Hausarztmedizin wegen des Fachkräftemangels abzuwenden. Die Hausärzte sind der wichtigste Pfeiler unseres Gesundheitssystems. Wenn er wegfällt, wird es definitiv noch teurer.
Man sagt, die Appenzeller setzten oft auf Naturheiler und Gesundbeter. Spielt das auch eine Rolle?
Um die Gesundbeter wird bei uns ein Geheimnis gemacht, ähnlich wie um das Rezept des Appenzeller Käses. Im Telefonbuch oder im Internet werden sie kein Angebot finden. Aber wenn sie die Leute hier auf der Strasse fragen, würden acht von zehn sagen, sie oder ihre Verwandten hätten schon Kontakt zu einem Gesundbeter gehabt.
«Es gehört sicher nicht zu den Stärken der Appenzeller, über Gefühle zu sprechen.»
Ist das ein Faktor für die tiefen Gesundheitskosten?
Das Gesundbeten ist vor allem ein Thema gegen Hitz und Brand, also gegen Fieber und Infektionen. Es ist kein Ersatz für den Arztbesuch, sondern oft eine Begleitmassnahme. Man nimmt einen Gesundbeter zum Beispiel auch in Anspruch, damit ein grösserer Eingriff gelingt, etwa eine Hüftoperation.
Wie steht es um die Naturheilpraktiker?
Der Zuspruch für Naturheilprodukte ist gross, auch das Wissen um die Wirkung gewisser Pflanzen ist in vielen Familien noch vorhanden und wird Generation für Generation weitergegeben. Aber die Hochburg der Naturheilpraktiker liegt in Ausserrhoden, nicht bei uns.
Die Suizidrate im Kanton Appenzell Innerrhoden gehörte lange zu den höchsten in der Schweiz. Weil man sich keine professionelle Hilfe holt?
Es gehört sicher nicht zu den Stärken der Appenzeller, über Gefühle und Schwierigkeiten zu sprechen. Lange galt das Credo: Man löst Probleme selber, trägt sie nicht nach draussen, die Nachbarn müssen das nicht wissen. Aber ich glaube, das ändert sich langsam. Gerade die Jungen merken, dass es hilft, sich auszutauschen, und dass man auch mit dem Hausarzt über psychische Probleme reden kann.
Was kann die Schweiz vom Kanton Appenzell Innerrhoden lernen?
Man sollte vor allem darauf achten, dass man Angebote hat, damit die Menschen gar nicht erst ins kostenpflichtige Gesundheitssystem rein müssen. Wenn ein Kind krank ist, kann man bei uns zum Beispiel auch noch spätabends die Mütter- und Väterberatung anrufen. Sie kann verunsicherte Eltern beraten, ob ein Arztbesuch wirklich nötig ist. Wir haben in dieser Hinsicht ein sehr breit aufgestelltes System. Das gibt Sicherheit und Vertrauen.
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