Mentale Gesundheit von Teenagern«Hoppla, Geschwister sind offenbar nicht nur gut»
Brüder und Schwestern gelten als wichtig für die Entwicklung von Kindern. Nun zeigt eine grosse Studie, dass es Jugendlichen mit mehreren Geschwistern psychisch schlechter gehen kann.
Ein Kind braucht Geschwister – das war lange Zeit die landläufige Meinung. Auch wenn es in Familien in den meisten Teilen Europas weitaus weniger Kinder gibt als früher, gelten ein oder zwei Geschwister immer noch als förderlich fürs Kindeswohl – wenn auch nicht immer für die Nerven der Eltern.
Eine neue Studie von der Ohio State University stört jetzt diese Vorstellung. Der Arbeit zufolge, die im Fachblatt «Journal of Family Issues» publiziert wurde, sind Geschwister nämlich gar nicht so gut für die psychische Gesundheit wie gedacht. Vielmehr haben Teenager mit zwei Geschwistern mehr depressive Symptome oder Ängste als Gleichaltrige mit nur einem oder keinem Geschwisterkind.
Die Wissenschaftler hatten rund 9400 Achtklässler aus China und 9100 gleichaltrige US-Amerikaner befragt. Dabei hatten, wenig überraschend, die chinesischen Jugendlichen wegen der langjährigen Ein-Kind-Politik Pekings im Durchschnitt weniger Geschwister als die US-amerikanischen, nämlich 0,9 im Vergleich zu 1,6; und während in China 34 Prozent der untersuchten Teenager Einzelkinder waren, traf dies nur auf 12,6 Prozent der US-Jugendlichen zu. Die Jugendlichen, die im Durchschnitt 14 Jahre alt waren, gaben nicht nur an, wie viele Geschwister sie hatten, sie füllten zudem Fragebögen zu ihrer psychischen Gesundheit aus.
Teenager mit zwei Geschwistern fühlen sich deutlich schlechter
In beiden Ländern ergab sich ein ähnlich negativer Einfluss von Geschwistern. So erging es den jungen Chinesinnen und Chinesen am besten, wenn sie Einzelkinder waren; in den USA machte es hingegen kaum einen Unterschied, ob es in einer Familie ein oder zwei Kinder gab, doch Teenager mit zwei Geschwistern fühlten sich deutlich schlechter. Dabei kam es nicht darauf an, ob die Geschwister Halb- oder Vollgeschwister waren – beide führten zu einer schlechteren psychischen Gesundheit.
Die Ergebnisse stützen aus Sicht der Forschenden die Ressourcen-Hypothese, der zufolge Geschwister um Aufmerksamkeit und Fürsorge der Eltern konkurrieren. «Wenn man sich die elterlichen Ressourcen wie eine Torte vorstellt, heisst es, dass ein Einzelkind die ganze Torte bekommt – alle Aufmerksamkeit und alle Ressourcen der Eltern», sagt der Studienleiter Doug Downey, Soziologieprofessor an der Ohio State University. «Aber wenn man weitere Geschwister hinzufügt, bekommt jedes Kind weniger Ressourcen und Aufmerksamkeit, und das könnte einen Einfluss auf seine mentale Gesundheit haben.»
Dass sich Eltern um die Jüngeren nicht mehr so intensiv kümmern wie um die Erstgeborenen, zeigen internationale Studien seit langem. So gibt es in den Impfpässen kleinerer Geschwister häufiger Lücken, und in kinderreichen Familien auf den Philippinen erreichen die mittleren und jüngeren Kinder im Durchschnitt eine geringere Körpergrösse – wohl weil sie nicht mehr so gut ernährt werden. Dass ähnliche Effekte auch in der Studie aus Ohio eine Rolle spielen, bestätigt ein weiterer Befund: Es ging den befragten Teenagern psychisch umso schlechter, je kleiner der Altersabstand zu ihren Geschwistern war. «Kinder, die nahezu gleich alt sind, brauchen nun einmal die gleiche Art von elterlichen Ressourcen», sagt Downey.
Den Kinder- und Jugendarzt Wieland Kiess überraschen die neuen Daten: «Zum ersten Mal sieht man hier: Hoppla, Geschwister sind offenbar nicht nur gut», sagt der Direktor der Kinderklinik am Universitätsklinikum Leipzig. Schwierig an der Interpretation solcher Studien sei es aber, dass viele Faktoren zur psychischen Entwicklung von Kindern beitragen, die das Ergebnis verzerren können. «So erhöht Armut das Risiko für mentale Erkrankungen besonders stark, es ist der zweitwichtigste Risikofaktor», sagt Kiess. Tatsächlich gab es in der Studie von der Ohio State University einen Effekt in dieser Richtung:
Sowohl in China als auch in den USA hatten Kinder aus den sozial am besten gestellten Familien die beste psychische Gesundheit – und das waren in China die Teenager aus Ein-Kind-Familien, in den USA solche mit keinem oder einem Geschwisterkind. Doch der negative Effekt der Geschwister gehe weit über diesen sozioökonomischen Faktor hinaus, so Downey.
Kinder mit Geschwistern lassen sich als Erwachsene seltener scheiden
Der Soziologe räumt aber auch ein, dass die Studienlage uneinheitlich ist. «Andere Studien haben gezeigt, dass es mit einigen positiven Effekten verbunden ist, mehr Geschwister zu haben», sagt Downey – auch seine eigenen. So haben US-amerikanische Kinder mit mehr Brüdern und Schwestern im Kindergartenalter bessere soziale Fähigkeiten, und als Erwachsene lassen sie sich seltener scheiden. Erst im vergangenen Jahr ergab eine Befragung von mehr als 2500 Müttern aus Europa, den USA und China, das Kinder mit älteren Geschwistern die Herausforderungen der Pandemie besser bewältigt haben – jedenfalls in den Augen ihrer Mütter.
Ältere Geschwister können zudem helfen, den Stress abzupuffern, dem Kinder gestresster Mütter ausgesetzt sind. Das hat Wieland Kiess im Jahr 2022 im Fachmagazin «BMC Public Health» berichtet. Demnach entwickelten Kinder mit älteren Brüdern oder Schwestern nach Angaben ihrer Mütter seltener Verhaltensauffälligkeiten, waren also weniger unruhig, ängstlich oder wütend. Dies deute darauf hin, «dass Geschwister zur gesunden Entwicklung eines Kindes beitragen können», schloss Kiess aus Befragungen von 373 Müttern, die sie von der Schwangerschaft an begleitete, bis die Kinder zehn Jahre alt waren.
Auch wenn Geschwister natürlich eine Belastung und somit negativ für die Entwicklung sein können, sei auch ein positiver Effekt plausibel, sagt Kiess: «Mit Geschwistern muss man sich auseinandersetzen, man kann ja nicht vor ihnen davonlaufen, und man lernt von ihnen.» Das gilt besonders für Kinder, die ältere Geschwister haben.
Entscheidend ist die Qualität der Beziehungen
Ob Geschwister einem Kind psychisch zusetzen, hängt somit vermutlich vor allem von der Qualität der Beziehung ab. Während bösartige Streitereien, Erniedrigung und Hass zwischen Geschwistern der Seele gewiss nicht guttun, kann Zuneigung Resilienz befördern. Eine positive Beziehung zu einem Bruder oder einer Schwester mache Kinder stark für psychische Krisen, zeigten vor einigen Jahren Forschende von der Universität Toronto.
Aufgabe von Eltern sei es also, die Beziehung von Geschwistern zu fördern und keinesfalls die Konkurrenz zwischen ihnen noch anzuheizen, sagt Wieland Kiess. Und er sagt noch etwas: Eltern von Einzelkindern sollten sich nicht sorgen, nach der aktuellen Studie aus Ohio erst recht nicht mehr. Zwar brauchten Kinder andere Kinder, aber es müssten nicht zwangsläufig Geschwister sein, so der Kinderarzt: «Wenn Kinder früh soziale Kontakte haben, wenn sie zum Beispiel in die Kita gehen oder in den Sportverein und wenn sie sich nach der Schule verabreden dürfen, dann lernen sie auch Sozialverhalten.»
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