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Meinung

Gastbeitrag
Universität, Mensch und Maschine: Vom Elfenbeinturm zur Seidenstrasse

Elfenbeinturm? Die renommierte Harvard-Universität in Boston.
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Das US-Bildungsministerium hat vor einem Monat eine Untersuchung über die Richtlinien der Harvard University zu sogenannten geerbten Immatrikulationen (legacy admissions) eingeleitet. Die Biden-Regierung reagierte damit auf das kürzlich gefällte Urteil des Obersten Gerichtshofs, welches positive Diskriminierung (affirmative action) durch Universitäten bei der Aufnahme von Studenten als rechtswidrig einstufte.

Eine Gruppe von Aktivisten aus afroamerikanischer und hispanischer Herkunft hatte eine entsprechende Beschwerde eingereicht und dabei geltend gemacht, dass Studenten, die von Alumni-Eltern abstammen, bis zu siebenmal höhere Chancen haben, in Harvard aufgenommen zu werden, wobei sie fast ein Drittel einer Klasse ausmachen können und circa zu 70 Prozent weisshäutig sind. Für das Studienjahr 2019 genossen etwa 28 Prozent der immatrikulierten Studenten über solche legacy admissions, um an der renommierten Universität studieren zu können.

Etwa die Hälfte der auf diese Weise bevorzugten Studierenden wäre ohne das Vererbungsprivileg durch Alumni-Eltern nicht zugelassen worden.

Eine Studie über das Ausmass dieser Privilegien stellte insbesondere fest, dass Bewerber mit Alumni-Eltern zwar im Allgemeinen für Studienplätze besser qualifiziert waren als durchschnittliche Kandidaten, jedoch viel häufiger selektioniert wurden als Konkurrenten mit ähnlichen Qualifikationen. Etwa die Hälfte der auf diese Weise bevorzugten Studierenden an den von der Studie untersuchten Elitehochschulen wäre ohne das Vererbungsprivileg durch Alumni-Eltern nicht zugelassen worden.

Harvard und gleichgesinnte Hochburgen verteidigen die fraglichen Praktiken mit dem Argument, dass sie für die Aufrechterhaltung enger und geldträchtiger Beziehungen zu betuchten Alumni unerlässlich seien, weil diese eher dazu geneigt seien, konsequente Spenden zu tätigen, wenn die Universitäten ihre Kinder bevorzugen. Dies ist eine enorme Verschwendung menschlicher Begabung zugunsten eines kleinen angelsächsischen Clubs von exklusiven Privatuniversitäten und ihren sklavischen Nachahmern in reichen Volkswirtschaften.

Schlagkraft durch Kaufkraft ist für die überwiegende Mehrheit und Vielfalt der Universitäten unerschwinglich, die durch diese überkapitalisierten Elite-Wissenschaftsbetriebe aus dem Markt gedrängt werden. Die gefügige Nachahmung dieses Models ist kaum empfehlenswert. Die Alternative, sich im Elfenbeinturm zu verschanzen, wäre jedoch ebenso fatal wie Leibeigenschaft.

Gerade für die europäischen und schweizerischen Universitäten geht es heute darum, sich der Vielfalt der Intelligenzen der Welt zu öffnen.

Verzerrende Spiegelbilder menschlicher und künstlicher Intelligenz – der Mensch Kopf an Kopf mit dem Rechner – verlangen eine radikal neue geistige Aufgeschlossenheit, eine ouverture d’esprit zur Weltoffenheit, welche durch Interaktionen und Konfrontationen unsere graue Substanz stimuliert und bereichert. Denkmaschinen verarbeiten Information zu Wissen und deren sprachliche Gestaltung quasi mit Lichtgeschwindigkeit.

In diesem Kampf von David gegen Goliath ist individuelle Vernunft durch kollektives Denkvermögen zu befruchten. Diese Herausforderung erfordert einen radikalen Paradigmenwechsel insbesondere im Verhältnis zwischen Universitäten auf der ganzen Welt. Sie verlangt eine neuartige menschliche Vernetzung, die Solidarität und Billigkeit im Sinne von équité innerhalb und zwischen Generationen verwirklicht, ansonsten wir nicht nur unseren Verstand, sondern auch unsere menschliche Würde verlieren werden.

Gerade für die europäischen und schweizerischen Universitäten geht es heute darum, sich der Vielfalt der Intelligenzen der Welt zu öffnen, ohne sich vom Glanz und Glitter der Marken, Klassifizierungen und anderen Sirenen der akademischen Konsumgesellschaft täuschen zu lassen. Es geht darum, eine globale Infrastruktur im Dienste der menschlichen Intelligenz aufzubauen, die in der Lage ist, Vernetzung der hiesigen Spitzenforschung und Lehre ebenbürtig mit Denkern aus Afrika, Asien, Lateinamerika und der Migration – deren Masse wegen dem Klimawandel massiv zunehmen wird – im Geiste echter Solidarität und Äquität zu verwirklichen.

Dabei kann man sich von der Seidenstrasse inspirieren lassen, um eine «Gehirnstrasse» weltweit zu schaffen, womit den Erzeugnissen der menschlichen Vernunft möglichst grösste Freizügigkeit zum Gedeihen der Begabten geebnet wird. Diese Renaissance durch ouverture d’esprit wäre ein wesentlicher Beitrag der akademischen Welt an die Menschheit, damit künstliche Intelligenz zu einem Instrument für Wohlfahrt ebendieser Menschheit wird und nicht vom Werkzeug zum Meister mutiert.

Christophe Germann ist Rechtsanwalt in Genf und adjunct professor für Völkerrecht an der amerikanischen Webster University. Er leitet im Genfer Campus das Kompetenzzentrum International Relations and International Law of Artificial Intelligence.