Protest mit zwei Meter AbstandCorona-Krise führt zu «Notstandsregierung» in Israel
Der rechtskonservative Regierungschef Netanjahu und sein oppositioneller Rivale Gantz schmieden eine Grosse Koalition – trotz heftiger Kritik und Protesten.
Dreimal binnen eines Jahres mussten die Israelis an die Wahlurnen gehen – und dreimal gab es keinen klaren Sieger. Erst unter dem massiven Druck der Corona-Krise hat sich die quälende politische Pattsituation nun aufgelöst. Der Kandidat der Mitte, Benny Gantz, hat seine Weigerung aufgegeben, wegen der Korruptionsanklage gegen den rechtskonservativen Regierungschef Benjamin Netanjahu mit diesem in einer Regierung zu sitzen. Die beiden Rivalen haben sich am Montag auf die Bildung einer Notstandsregierung geeinigt. Doch es bleiben viele Fragezeichen. Und grosse Teile der Opposition sehen ihre Galionsfigur Gantz nun als jämmerlichen Verräter an.
Der 60-Jährige habe sich Netanjahu kampflos unterworfen und sei «in seine Regierung gekrochen», sagte Gantz' bisheriger Weggefährte vom Mitte-Bündnis Blau-Weiss, Jair Lapid, mit deutlicher Verachtung. Trotz der Corona-Krise dürften demokratische Grundwerte nicht auf der Strecke bleiben, mahnte Lapid immer wieder. Blau-Weiss, ein Bündnis aus drei Parteien, war angesichts der Entscheidung von Gantz zerbrochen.
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Gantz schrieb am Montag nach der Einigung mit Netanjahu bei Twitter: «Wir haben eine vierte Wahl verhindert. Wir werden die Demokratie schützen. Wir werden gegen das Coronavirus kämpfen und uns um jeden israelischen Bürger kümmern.» Nach Angaben des israelischen Fernsehens soll er zunächst Verteidigungsminister werden, Gabi Aschkenasi von Blau-Weiss Aussenminister und Avi Nissenkorn Justizminister.
«Ein echter Patriot» in der Corona-Krise
Was hat Gantz also zu diesem dramatischen Schritt bewogen? Jonathan Rynhold, Politikprofessor an der Bar-Ilan-Universität nahe Tel Aviv, sieht mehrere Beweggründe. «Zunächst einmal ist er ein echter Patriot und er glaubt wirklich, dass dies angesichts der Ausbreitung des Coronavirus die richtige Entscheidung ist», sagt Rynhold. Ausserdem sei Gantz nach drei Wahlkämpfen müde. «Er hat die Sorge, dass die Alternative eine vierte Wahl wäre – die schlecht für ihn persönlich und das Land wäre.» Gantz gehe davon aus, dass er bei einer vierten Wahl der Verlierer wäre.
Netanjahus rechts-religiöse Regierung war Ende 2018 im Streit über die Wehrpflicht auch für strengreligiöse Männer zerbrochen. Seitdem regierte der 70-Jährige das Land an der Spitze einer Übergangsregierung. De facto hatte er keine demokratische Legitimation mehr. Drei Wahlen – April und September 2019 und März 2020 – hatten keine klare Entscheidung zwischen dem rechts-religiösen Lager um Netanjahu und dem Mitte-Links-Lager um Gantz gebracht. Keiner verfügte allein über eine Mehrheit zur Regierungsbildung.
Der Ex-Militärchef schliesst sich nun mit dem verbleibenden Teil von Blau-Weiss der Koalition an. Sie verfügt über 17 von 120 Mandaten im Parlament, während Netanjahus Likud mit 36 Sitzen stärkste Fraktion wurde. Es gilt als Formsache, dass auch die strengreligiösen Parteien – Verbündete Netanjahus – in die Koalition eintreten.
Die Koalitionsvereinbarung zwischen Gantz und Netanjahu sieht nach Medienberichten unter anderem ein Rotationsverfahren vor. Demnach soll erst Netanjahu für eineinhalb Jahre Ministerpräsident werden. Im Herbst 2021 wird er dann laut der Einigung von Gantz abgelöst.
Netanjahu könnte laut Kritikern das Gerichtssystem schwächen
Doch viele Experten äussern Zweifel daran, dass «Bibi» sich wirklich an diese Vereinbarung halten wird. Die Zeitung «Maariv» schrieb kürzlich unter Berufung auf politische Kreise, es werde damit gerechnet, dass Netanjahu «in ein paar Monaten, wenn die Corona-Krise und die Wirtschaftskrise wieder unter Kontrolle sind, und wenn die Meinungsumfragen für ihn gut aussehen, eine weitere Wahl im Herbst erzwingen könnte». In einem solchen Szenario könnte Netanjahu sich als erfolgreicher Krisenmanager präsentieren, Gantz wäre jedoch als Kandidat der Opposition verbrannt, sein Bündnis zerstört.
Kritiker befürchten auch, dass Netanjahu das Gerichtssystem schwächen will, um einer Haftstrafe zu entgehen. Ausserdem wurde zuletzt in zahlreichen Berichten kritisiert, dass in der Regierung bis zu 36 Minister sitzen sollten. Bisher waren es 23 gewesen. Ausserdem war die Rede von zwei vom Staat finanzierten Residenzen für den Ministerpräsidenten und seinen Stellvertreter. Danach könnte Netanjahu auch nach seiner Zeit als Regierungschef in der bisherigen Residenz des Ministerpräsidenten wohnen bleiben.
Angesichts der Corona-Krise war der Beginn des Korruptionsprozesses gegen Netanjahu von Mitte März auf den 24. Mai verschoben worden. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Betrug, Untreue und Bestechlichkeit vor.
Nach Einschätzung von Rynhold ist Netanjahus Hauptbeweggrund für alle politischen Schritte «der Versuch, einer Gefängnisstrafe zu entgehen». Dies sei der Grund für die drei Wahlen, «für alles», sagt der Politikprofessor. «Dies wird die treibende Kraft in der Politik bleiben. Das ist es, was die mächtigste Person im System am meisten bewegt.»
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