«Früher war ich eine Ballettnonne»
30 Jahre tanzte die Küsnachterin Christina Maria Meyer als Ballerina. Eine Karriere voller Leidenschaft und Dramatik.
Ballett als Beruf hat viel mit physischer Entbehrung zu tun. Warum tut man sich das an?
Christina Maria Meyer: Obwohl es sehr streng ist, träumte ich den zuckersüssen Traum von der Ballerina in ihrem Tutu. Ich habe sehr jung mit dem Tanzen angefangen. Wir waren mit der Familie immer Tee trinken in Basel im Globus, wo es ein grosses Orchester gab. Zu dessen Musik habe ich häufig getanzt, woraufhin meine Mutter mich fragte, ob ich ins Ballett gehen will. So kam ich mit sieben Jahren ans Ballett des Stadttheaters Basel. Dort herrschte ein russisches System. Mit zehn Jahren ging ich täglich trainieren und konnte in zahlreichen Aufführungen mitmachen.
«Ich träumte den zuckersüssen Traum der Ballerina in ihrem Tutu.»
Sie haben vom russischen System gesprochen, das klingt nach Drill.
Es war ein extremer Drill wie auf dem Kasernenhof. Wir haben geprobt bis zum Umfallen. Nach einer «Schwanensee»-Vorführung fand unser Ballettmeister, dass wir so schlecht getanzt hätten, dass wir von elf Uhr nachts bis zwei Uhr morgens nochmals proben mussten. Erst dann durften wir nach Hause gehen.
Und wie sahen die Momente aus, für die die Plackerei sich gelohnt hat?
Es ist wie im Hochleistungssport: Bei Aufführungen schüttet man so viele Endorphine aus, dass man den Schmerz nicht mehr spürt. Dieser Rausch, aber auch der Applaus wirken wie eine Droge. Wer einmal mit dem Ballettvirus infiziert wurde, der wird es nie wieder los.
Gibt es Momente, in denen es Sie in den Füssen juckt und Sie wieder gerne tanzen würden?
Im Corps de Ballet würde ich nicht mehr tanzen wollen. Aber ich war auch Solistin und in Freiburg im Breisgau erste Solotänzerin. Wenn man eine Rolle tanzen darf, welche speziell für einen choreografiert wurde, ist das das Schönste. Ich kann das Zuschauen heute aber geniessen und habe nicht mehr den Drang zu tanzen.
Welche Rolle wurde speziell für Sie choreografiert?
In Freiburg hat Ballettchoreograf Riccardo Duse «Daphnis und Chloé» von Ravel neu für mich choreografiert. Die Handlung wurde in ein südamerikanisches Land mit einer Diktatur verlegt. Wir Tänzer waren die Unterdrückten, die sich dagegen aufgelehnt haben. Es war die eindrücklichste Rolle, die ich je getanzt habe. Meine Chloé war temperamentvoll, ausdrucksstark und kämpferisch, aber auch gefühlvoll im Liebes-Pas-de-deux. Die Zusammenarbeit mit Riccardo Duse war ein Glücksfall.
Liebe ist das Thema vieler Ballette. Bleiben die Gefühle immer professionell, oder funkt es auch zwischen Tanzpartnern?
Ich habe das nicht nur gespielt, sondern in dem Moment auf der Bühne gelebt. Sonst wäre es zu oberflächlich geblieben, und die Zuschauer hätten die Emotionen nicht geglaubt. Aber man hat nicht immer einen Partner zum Verlieben. Ich war nie mit einem Tanzpartner zusammen, wobei es zu meiner Zeit auch fast nur schwule Tänzer gab. In der Kompanie des Opernhauses haben wir einige Pärchen: Männer mit Frauen, aber auch Männer mit Männern. Das ist wirklich schön. Die heutigen Jungen sind viel freier, was das anbelangt.
Sie haben in Monte Carlo mit Rudolf Nurejew getanzt.
Es handelte sich um «La Sylphide». Die besten Schülerinnen der Akademie in Monte Carlo durften im Corps de Ballet mittanzen, ich war eine von ihnen. So stand ich mit 17 das erste Mal mit Nurejew auf der Bühne. Ich erinnere mich an die erste Probe. In meiner jugendlichen Arroganz stellte ich fest, dass Carla Fracci viel weniger Pirouetten drehen konnte als ich. Aber als sie und Nurejew zusammen tanzten, habe ich erst begriffen, was Tanz ist, und dass nicht technisch perfekte Pirouetten ausschlaggebend sind. Da war ich ruhig und fast ein wenig beschämt.
Können Sie sich an bestimmte Erlebnisse mit Nurejew erinnern?
In Monte Carlo war Nurejew fast wie ein Kind. Er wurde von Marika Besobrasova, der Gründerin und Leiterin der Akademie, gecoacht und liess sich von ihr alles sagen. Als ich ihn in den 70er-Jahren in Zürich erlebt habe, zeigte er sich als Star mit Allüren. Einmal passte ihm etwas bei den Proben nicht, da schlug er die Glastüre zum Ballettsaal so heftig zu, dass diese zu Bruch ging. Nurejew suchte die Reibung, den Konflikt. Er hatte eine wahnsinnige Energie und hat genommen, was er kriegen konnte, dabei aber auch sich selbst nicht geschont.
Der Körper ist im Ballett ein Arbeitsinstrument. Gibt es Dinge, die verboten sind?
Mir war es vertraglich verboten, Ski und Motorrad zu fahren. Ich bin mit 21 trotzdem einmal heimlich nach Flims, um Ski zu fahren. Aber als Junge habe ich auf alles verzichtet, was Gleichaltrige gemacht haben, habe beispielsweise kaum Alkohol getrunken. Zwischen 15 und 20 war ich eine Ballettnonne.
Sie erzählen in der Lesung «Tutu, Tränen und Capriolen» von Ihren Balletterinnerungen. Ihr Sohn, der Singer und Songwriter Aaron Wegmann, begleitet Sie dazu gesanglich und auf der Gitarre. Wie kam es dazu?
Ich habe Ballettgeschichten geschrieben und hatte die Idee, diese mit Musik und Tanz zu kombinieren. Daraufhin habe ich Aaron gefragt, ob er etwas komponieren könnte. So ist die Zusammenarbeit entstanden. Auch wie die Zusammenarbeit mit der Tänzerin, die auftritt, zustande gekommen ist, ist speziell. Letztes Jahr habe ich sie in meiner Funktion als Prüferin für die Berufslehre Bühnentänzerin kennengelernt. Sie ist mir wegen ihres schönen Ausdrucks aufgefallen. Als ich sie fragte, sagte sie zu und erzählte mir ihre Geschichte. Wegen eines Body-Mass-Indexes (BMI) von 18,5 wäre sie von ihrer Schule fast nicht zur Prüfung zugelassen worden. Gewünscht war ein BMI von 16.
Das ist stark untergewichtig.
Ja, der Kampf gegen die Magersucht bei jungen Tänzerinnen ist mir ein grosses Anliegen. Ich habe bereits einmal erlebt, wie eine begabte Schülerin von mir in die Magersucht abgerutscht ist. Für mich ist es wichtig, dass man zuerst an die Kinder und nicht an den Erfolg der Schule denkt. Tänzerinnen mit Anorexie können bleibende Schäden davontragen.
Wie ist die Stimmung in Ballettensembles unter den Tänzerinnen: Ist man ein Team, oder geht es intrigant zu und her?
Es ist beides. Wegen der Rollen gibt es Eifersüchteleien, und doch ist man wie eine Familie.
Was für Eifersüchteleien haben Sie denn erlebt?
In Freiburg habe ich in einem Stück für zwei Frauen getanzt. Da fiel ein grosses Teil des Bühnenbildes von der Decke. Ich bin überzeugt, dass es sich um ein Attentat handelte, aber wir wurden nicht getroffen. Es gibt auch Geschichten über Tänzerinnen, die Rasierklingen in die Spitzenschuhe ihrer Konkurrentinnen gesteckt haben, happige Sachen. Ich denke, dass der Umgang heute aber kollegialer ist, beispielsweise am Opernhaus Zürich. Bei den kleinen Schwänen in «Schwanensee» tanzt eine erfahrene mit drei jungen Tänzerinnen. Die erfahrene Ballerina kümmert sich sehr um ihre Kolleginnen.
Was wäre Ihre Traumrolle gewesen?
Das wäre die Giselle gewesen, die an gebrochenem Herzen stirbt. Als Kind habe ich eine Tänzerin gesehen, welche die Rolle wunderschön getanzt hat. Wenn ich doch einmal die Giselle tanzen könnte, habe ich anschliessend meinem Tagebuch anvertraut. Soweit kam es nie, ich habe es bis zum Bauern-Pas-de-deux gebracht. Traurig bin ich deswegen aber nicht.
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