Sektenexpertin wird freigesprochen
Wegen Aussagen in einem Interview hatten die Zeugen Jehovas eine Mitarbeiterin der Beratungsstelle Infosekta angezeigt.

«Die meisten Aussagen der Beschuldigten waren klar ehrverletzend», sagte der Einzelrichter gestern vor dem Bezirksgericht Zürich. Dennoch bedeute dies nicht, dass sich die ehemalige Mitarbeiterin der Sektenberatungsstelle Infosekta mit dem Interview, das sie 2015 Hugo Stamm gegeben hatte, und das im «Tagesanzeiger» erschienen war, strafbar gemacht habe. Deshalb wurde sie freigesprochen.
Die Psychologin habe die Zeugen Jehovas nicht schlecht machen wollen, sagte der Richter, sondern die Glaubensgemeinschaft lediglich als Expertin eingeschätzt, wie dies von ihr als Vertreterin einer Fachstelle zu erwarten gewesen sei.
«Emotionale Nähe verweigert»
Die Frau hatte im Interview gesagt, dass die Ächtung von ausgeschlossenen Mitgliedern der Zeugen Jehovas gegen die Menschenrechte und die Verfassung verstosse. Auch Minderjährige seien davon betroffen, indem ihnen emotionale Nähe von ihren Eltern verweigert werde. Dass Zeugen Jehovas Bluttransfusionen ablehnten, gefährde bei Unfällen und Geburten das Leben von Gläubigen.
Das geschlossene System der Glaubensgemeinschaft fördere sexuellen Missbrauch, speziell von Kindern, sagte die Expertin weiter im Interview. Auch, wegen der sogenannten Zwei-Zeugen-Regel, die besagt, dass mindestens zwei Zeugen einen Vorfall bezeugen müssten, damit einer Beschuldigung innerhalb der Gemeinschaft nachgegangen wird. Dies sei bei Kindesmissbrauch aber grundsätzlich nie der Fall.
«Falsch und rufschädigend»
Die Anwälte der Zeugen Jehovas Schweiz wehrten sich gegen die Aussagen, die alle «wahrheitswidrig und rufschädigend» seien. Die Zwei-Zeugen-Regel sei etwa kurz vor dem Interview abgeschafft worden. Die Staatsanwaltschaft forderte einen Schuldspruch wegen mehrfacher übler Nachrede und eine bedingte Geldstrafe von 6000 Franken.
Dass sich die Zeugen Jehovas wehrten, sei nachvollziehbar, sagte der Richter bei der Urteilsbegründung, denn die Vorwürfe seien «deftig». Allerdings habe er etwa bei der Zwei-Zeugen-Regel feststellen müssen, dass diese nach wie vor praktiziert werde. Auch bei der Ächtung der Aussteiger gelte der Wahrheitsbeweis, da hunderte von Berichten von ehemaligen Gemeinschaftsmitgliedern, die die Dogmatik und soziale Kontrolle nicht mehr aushielten, ernstgenommen werden müssten.
«Eine Frage der Wahrnehmung»
Bei den meisten Aussagen zur Glaubenspraxis sei der Wahrheitsbeweis allerdings sehr schwierig, weil vieles von sprachlichen Konnotationen abhänge und eine Frage der Wahrnehmung sei, sagte der Richter. Deshalb stehe der Gutglaubensbeweis im Vordergrund. Die Infosekta-Mitarbeiterin, die unterdessen nicht mehr für die Beratungsstelle arbeitet, habe ihren Auftrag der öffentlichen Information nach bestem Wissen und Gewissen ausgeführtund habe sich auf Dokumente und Erfahrungsberichte aus Beratungen gestützt.
Das Gericht sprach der Frau Entschädigungen von knapp 25000 Franken für den grossen Aufwand zu. Sie hatte eine 90-seitige Abhandlung zusammengestellt, um ihre Aussagen zu rechtfertigen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig und kann weitergezogen werden.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch