Forensiker über Missbrauch in der Kirche«Ideales Biotop für Männer, die bereits sexuell an Kindern interessiert sind»
Wieso vergehen sich so viele Geistliche an Kindern? Marc Graf von den Universitären Psychiatrischen Kliniken arbeitet mit Pädophilen und hat Antworten, die den Katholiken wehtun müssen.
Herr Graf, Sie arbeiten therapeutisch mit pädophilen Männern. Weshalb sind gerade in der katholischen Kirche so viele Täter unterwegs?
Ich sehe drei Hauptgründe: der völlig ungesunde Umgang mit Sexualität, der Ausschluss von Frauen und der Exklusivitätsanspruch, der zu extremen Abhängigkeitsverhältnissen führt.
Zum Umgang mit Sexualität gehört auch der Zölibat – ist das Sexverbot Teil des Problems?
Absolut! Es gibt nur sehr wenige Menschen, die ohne Intimität und Erotik leben können. Wenn man also Sex und auch Masturbation verbietet, stellt man Anforderungen, die die meisten gar nicht erfüllen können.
Aber es vergreifen sich doch nicht alle an Kindern?
Nein, aber der Anteil ist im Vergleich zur Gesamtbevölkerung wohl deutlich höher. Zum Zölibat kommt ja der Ausschluss der Frauen hinzu. Frauen haben nicht nur keinen Platz in der Kirche, sondern auch noch eine sehr problematische Rolle. In der Bibel sind sie die Verführerinnen, vor denen man sich in Acht nehmen muss. Es fehlen positive Frauenmodelle für eine unproblematische sexuelle Entwicklung. Männer leben in der Kirche also in einer abgeschlossenen, streng hierarchischen Männergesellschaft.
Und mangels Frauen werden sie pädophil?
Das klingt sehr vereinfacht, aber es ist tatsächlich so, dass sich eine sexuelle Präferenz dadurch entwickelt, dass wir etwas mit Lust und Befriedigung in Verbindung bringen. Was wir sehen, kann uns erregen. Wenn also ein junger Mann kaum Kontakt zu Frauen hat, kann er keine gesunde Erotik in Bezug auf sie entwickeln. Sexualität bleibt ein unterdrückter Tabubereich und ist deshalb gar nicht auf Augenhöhe möglich. Später sieht er dann vielleicht einen Buben und denkt an ihn, während er masturbiert. Und irgendwann will er es dann real erleben.
Und missbraucht ein Kind?
Ich habe schon viele solche Männer behandelt. Zuerst sind sie nach der Tat ganz erschüttert und haben Angst, dass die Polizei gleich kommt. Doch dann passiert immer genau dasselbe: Am nächsten Tag ist der Kontakt zum Opfer wieder ganz normal. Es hat niemandem davon erzählt und kommt trotz allem immer noch zu Besuch oder zur Beichte. Es will das ja, es findet mich attraktiv, redet sich der Täter dann ein. Wenn man das genügend lang durchlaufen hat, fixiert es sich im Gehirn. Dann hat man irgendwann eine Präferenzstörung wie eben die Pädophilie.
Es sind also die Verhältnisse innerhalb der Kirche, die zu pädophilen Neigungen führen?
… sie zumindest deutlich wahrscheinlicher machen, ja. Zudem ist eine Institution wie die katholische Kirche ein ideales Biotop für Männer, die bereits sexuell an Kindern interessiert sind. Beispielsweise hat man in der Seelsorge Zugang zu potenziellen Opfern. Dazu gibt es extreme Machtstrukturen und Abhängigkeitsverhältnisse, die Missbrauch erst ermöglichen. Die vermeintlichen Männer Gottes werden kaum infrage gestellt. Ein Kind, das sich davor ekelt, den Pfarrer oral zu befriedigen, denkt deshalb schnell, dass der Fehler bei ihm selbst liegen muss.
«Ich habe schon viele solche Männer behandelt. Zuerst sind sie nach der Tat ganz erschüttert. Doch dann passiert immer genau dasselbe.»
Und wenn sich ein Opfer Hilfe holen wollte, wurde ihm oft nicht geglaubt.
Die Abhängigkeit von den Kirchenoberen betrifft ja auch die Familien der Opfer. Strenggläubige Eltern wollen vielleicht nicht wahrhaben, dass ein Priester ein Kind missbraucht. Da gibt es daheim dann eine Ohrfeige fürs angebliche Lügen. Was übrigens ganz besonders schlimm ist.
Was löst das aus?
Wenn jemand immer wieder Opfer wird, aber keiner hinschaut und einschreitet, sind die Folgen des Missbrauchs häufig viel gravierender. Wenn man einem Opfer hingegen hilft, können Menschen selbst schwere Traumata meist gut überwinden.
Gibt es weitere Faktoren, die den Missbrauch innerhalb der Kirche fördern?
Täter müssen mit wenig Konsequenzen rechnen, sollte ein Missbrauch auffliegen. Wie wir gerade sehen, wurden sie ja intern meist nicht bestraft und sogar vor dem Zugriff durch die Strafverfolgungsbehörden geschützt.
«Man muss schon ganz schwer gestört sein, um nicht zu wissen, dass es unrecht ist, ein Kind sexuell zu missbrauchen.»
Die katholische Kirche in der Schweiz hat bis vor kurzem Akten zu Missbrauchstaten vernichtet …
Sehen Sie, das ist doch einfach unglaublich! Da geht es um schwere Straftaten an Kindern und Jugendlichen! Und da entzieht sich eine Parallelgesellschaft gezielt der Verantwortung.
Die Medien haben immer wieder über solche Taten berichtet, und die Kirche hat sich in diesen «Einzelfällen» betroffen gezeigt. War das unehrlich?
Ich kann Ihnen von einer persönlichen Erfahrung berichten.
Gern.
Ich war vor Jahren im Auftrag des Vatikans zu einer Fachkonferenz geladen. Es sollte um den Umgang mit der damals aufkommenden Internetpornografie gehen. Ich musste jedoch feststellen, dass es nicht darum ging, den Männern Hilfe anzubieten und das Thema ernsthaft anzugehen, sondern dass man das Thema Sex einmal mehr tabuisieren wollte. Als «Feigenblatt» war ich definitiv der falsche Experte.
Fehlt innerhalb der katholischen Kirche das Unrechtsbewusstsein im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch?
Man muss schon ganz schwer gestört sein, um nicht zu wissen, dass es unrecht ist, ein Kind sexuell zu missbrauchen. Aber wir Menschen haben unglaublich gute Kompetenzen, uns Dinge zurechtzulegen. Da kommt dann der ganze Blödsinn an Rechtfertigung: Ich wurde ja auch missbraucht und mir hat es auch nicht geschadet. Ich wende ja keine Gewalt an. Der Bub hatte ja eine Erektion, er findet mich also erotisch. All dieses Zeugs. Aber das Wissen ums Unrecht ist absolut da. Oft schämen sich die Täter sehr.
Wieso tun es viele dann immer wieder?
Das ist das Paradoxe. Scham ist extrem schwer auszuhalten. Besonders, wenn man mit niemandem darüber reden kann. Das führt zu Einsamkeit, Traurigkeit und Angst. Und was tut man, wenn man sich schlecht fühlt? Man fällt in alte Muster, die ein gutes Gefühl versprechen, zurück. Und in diesem Fall ist das der Missbrauch.
Die katholische Kirche soll jetzt so gestaltet werden, dass sie in Zukunft für alle ein sicherer Ort ist. Sehen Sie da Chancen?
Ganz ehrlich? Nein.
Weshalb nicht?
Die Kernelemente der Kirche mit ihren Macht- und Exklusivitätsansprüchen, dem Verteufeln von Sex, Intimität und Erotik, dem Ausschluss von Frauen, den Abhängigkeitsverhältnissen und vielem mehr, das alles ist nicht vereinbar mit einer Organisation, die konstruktiv mit der Gefahr von sexuellem Missbrauch umgeht. Eine unabhängige Meldestelle einzurichten reicht nicht, wenn Strukturen herrschen, die Missbrauch begünstigen.
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